F.A.Z. exklusiv: Wer anruft, kommt in dieser Notaufnahme kurzfristig schneller dran

Mit einem neuen Gesetz will Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) dafür sorgen, dass Notaufnahmen und Rettungsdienste entlastet und nicht länger mit Bagatellfällen überfrachtet werden. Im besten Falle sorgt die Novelle dafür, dass echte Notfälle schneller erkannt und besser versorgt werden – und dass dadurch die Überlebenswahrscheinlichkeit und die Heilungschancen steigen.

Durch effizientere Meldungen und Abläufe will Warken außerdem dafür sorgen, dass in der Notfallversorgung rund 2,3 Milliarden Euro im Jahr eingespart werden. Um die Gesetzliche Krankenversicherung in diesem Feld zu entlasten, sollen jedes Jahr 225 Millionen Euro aus dem Sondervermögen für Infrastruktur in die Digitalisierung der Arztpraxen, Krankenhäuser und Rettungsdienste fließen. Das sieht ein Referentenentwurf aus Warkens Haus vor, der jetzt in die Ressortabstimmung mit den anderen Ministerien gegangen ist und welcher der F.A.Z. vorliegt.

Die wichtigste Neuerung in dem mehr als 100 Seiten starken Referentenentwurf ist der flächendeckende Aufbau Integrierter Notfallzentren (INZ) als erste Anlaufstationen für Notfälle. Diese sollen rund um die Uhr geöffnet sein. Eine solche Idee gab es schon früher, jetzt aber werden die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verpflichtet, eine Rahmenvereinbarung über bundeseinheitliche Vorgaben für diese Einrichtungen zu schließen. Die INZ bestehen künftig aus der Notaufnahme im Krankenhaus, einer Notdienstpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in der Klinik oder in deren Nähe sowie aus einer zentralen Ersteinschätzungsstelle, auch Tresen genannt.

Nur in gravierenden Fällen an die Notfallversorgung

Die Notdienstpraxen sind immer dann geöffnet, wenn viele reguläre Praxen geschlossen haben: zumeist zwischen 18 und 21 Uhr, mittwochs und freitags schon von 14 Uhr an, am Wochenende von 9 Uhr an. Zu normalen Sprechstundenzeiten sollen reguläre Praxen als „Kooperationspraxen“ an die Notfallzentren angebunden werden. Im Falle lokaler Besonderheiten kann von der Rahmenvereinbarung abgewichen werden. So lässt sich auf eine Notdienstpraxis verzichten, wenn die ambulante Versorgung zu deren Öffnungszeiten anderweitig garantiert werden kann.

Grundsätzlich aber werden die KVen und die Hospitäler gesetzlich verpflichtet, sich an den Notfallzentren zu beteiligen. Wo diese INZ entstehen, das sollen die Selbstverwaltungspartner (also Krankenversicherer, Kassenärzte und Kliniken) innerhalb eines halben Jahres nach Inkrafttreten des Gesetzes nach deutschlandweit einheitlichen Vorgaben selbst festlegen. Falls sie das nicht schaffen, entscheidet das jeweilige Bundesland. Entscheidend sei, INZ flächendeckend anzubieten, so der Entwurf. Auch spezielle INZ für Kinder und Jugendliche (KINZ) sind vorgesehen.

„Ziel ist es, für alle Hilfesuchenden eine bundesweit einheitliche und gleichwertige Notfallversorgung sicherzustellen“, verspricht die Vorlage. Es gehe darum, alle Versorgungsbereiche enger zu vernetzen, die Patienten besser an die richtigen Stellen zu steuern und die Wirtschaftlichkeit der Notfallversorgung zu steigern, heißt es in dem „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung“.

Hoffnung Telemedizin

Konkret wird es künftig so sein, dass die Rufnummer 112 der Rettungsdienstleitstelle und die Akutleitstelle der Kassenärzte unter der Telefonnummer 116117 digital vernetzt werden. Die Ersteinschätzung verläuft nach einheitlichen Kriterien. Damit will man gewährleisten, dass die Schwere des Falls korrekt bewertet und der Hilfesuchende sofort an die richtige Stelle weiterverwiesen wird – und nur in gravierenden Fällen an die Notfallversorgung.

Leichtere Fälle sollen sofort telefonisch oder mittels Videosprechstunden abgeklärt werden. „Dies entlastet Notaufnahmen, aber insbesondere die Hilfesuchenden selbst“, erläutert ein Katalog zu Fragen und Antworten rund um die Novelle, welcher der F.A.Z. vorliegt. Gesetzlich wird verankert, dass der Notdienst der KVen mit Hausbesuchen künftig rund um die Uhr zur Verfügung stehen muss. Aber auch dies nur für solche Fälle, die von der Ersteinschätzung als entsprechend dringend angesehen werden und in denen der Patient nicht in ein INZ kommen kann.

Im Gesetzentwurf heißt es dazu: „Zur Sicherstellung einer medizinisch notwendigen Erstversorgung von Patientinnen und Patienten mit akutem Behandlungsbedarf werden die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, durchgängig eine telemedizinische und eine aufsuchende Versorgung bereitzustellen.“ Die Telemedizin entlaste die Ärzte und Patienten gelichermaßen.

Mit Anruf geht es schneller

Grundsätzlich kann man die Notaufnahme wie bisher ohne Termin aufsuchen. Schneller und verlässlicher geht dies aber, wenn man zuvor die 116117 anruft und im INZ einen Nachweis der Ersteinschätzung vorlegen kann. Dann werde man „in der Regel schneller behandelt als ein Selbsteinweiser“, so das Ministerium. Und es stellt klar: „Das INZ ersetzt nicht den Hausarzt – hier darf nur die zwingend notwendige Erstversorgung erfolgen.“

Auch nach einem Notruf über die Nummer 112 entscheidet die Leitstelle zukünftig nach der neuen standardisierten und vereinheitlichten Abfrage, wie es weitergeht: von der Weiterleitung an die 116117 bis zum Ruf eines Rettungshubschraubers. Im Falle eines Herzkreislaufstillstands werden Helfer, etwa Patientenangehörige, von den Rettungsleitstellen telefonisch zur Reanimation angeleitet. Außerdem werden über eine Ersthelfer-App freiwillige Ersthelfer in der Nachbarschaft alarmiert. Dazu wird ein bundesweit einheitliches Kataster mit Defibrillatoren aufgebaut.

Um möglichen Ärger mit den Ländern zu vermeiden, stellt Warkens Haus in dem Fragenkatalog klar, dass deren verfassungsgemäße Zuständigkeit für den Rettungsdienst nicht eingeschränkt werde. „Die Länder bleiben für die regionale Planung und Organisation zuständig, während Krankenkassen Verträge mit den geplanten Leistungserbringern schließen“, so die Formulierung. „Die Kombination aus Planungsverantwortung der Länder und vertraglicher Finanzierungsbasis der Krankenkassen schafft Rechts- und Finanzklarheit für alle Beteiligten.“

Eine besondere Rolle in der Neuordnung spielt die Digitalisierung einschließlich der elektronischen Patientenakte ePA. So sollen die Informationen zwischen allen Beteiligten, insbesondere auch zwischen den Anlaufstellen 112 und 116117, künftig digital und „ohne Medienbruch“ ausgetauscht werden. Das sei ein „zentraler Baustein der Notfallreform“, so das Papier.

Ein Drittel könnte regulär versorgt werden

Dazu gehöre auch, dass es künftig ein verbindliches System zur Anzeige aller aktuellen Verfügbarkeiten von Krankenhausressourcen geben müsse, „sodass die Entscheidungsfindung für Zielkliniken verbessert wird“. Der bisherige „Qualitätsausschuss Notfallrettung“ soll den Plänen zufolge durch ein neues Gremium beim GKV-Spitzenverband ersetzt werden. Dieses wird die Rahmenempfehlungen zur medizinischen Notfallrettung beschließen. Als Teilnehmer sind neben Mitgliedern der Selbstverwaltung auch ein stimmberechtigter Vertreter je Bundesland vorgesehen.

Den Hintergrund des Vorstoßes bilden Berechnungen, wonach ein Drittel der Patienten in Notaufnahmen in der regulären Versorgung versorgt werden könnten. Die Notaufnahmen dürfen bisher aber niemanden ablehnen. Für die gesamte Notdienststruktur, einschließlich des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, beziffert der Entwurf die Einsparungen in der Behandlungsnotwendigkeit auf 1,21 Millionen Fälle im Jahr. Das wären etwa acht Prozent aller Notdienstkontakte. Die Patienten könnten ihrerseits rund 2,6 Millionen Stunden für Wege- und Wartezeit sparen; umgerechnet wären das mehr als 300.000 Arbeitstage.

Kosten für strittige Rettungseinsätze

In den Rettungsdiensten, also in der mobilen Notfallversorgung und der Patientenbeförderung, besteht das Problem darin, dass sie ihre Leistungen bisher nur als „Fahrtkostenersatz“ abrechnen dürfen. Das führt zu Fehlanreizen, möglichst vielen Transporten zu den Notaufnahmen und zu Honorarstreitigkeiten mit den Krankenkassen und zuweilen den Patienten.

Bisher bestehe „nicht die Möglichkeit, Hilfesuchende in adäquater Weise gegebenenfalls auch ohne Transport zu versorgen oder an die ambulante Versorgung weiterzuleiten“, bemängelt der Entwurf. Deshalb sollen die Rettungsdienste künftig als eigenständiger Leistungsbereich im Fünften Sozialgesetzbuch ihre Einsätze als Sachleistungen mit den Versicherungen abrechnen dürfen.

Wörtlich heißt es: „Somit wird das medizinische Notfallmanagement, die medizinische Versorgung vor Ort und die fachlich-medizinische Betreuung während des Transports ausdrücklich als Teile der Krankenbehandlung anerkannt.“ Das entlaste auch die Patienten, da sie künftig die Kosten für strittige Rettungseinsätze nicht mehr selbst übernehmen müssten; dafür seien mitunter bis zu 2000 Euro je Einsatz angefallen.

Flächendeckender Aufbau Integrierter Notfallzentren

Bisher besteht eine Schwierigkeit auch darin, dass Notversorgung und Rettungsdienste in unterschiedliche Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen fallen. Trennungen existieren auch zwischen der stationären Krankenhausversorgung und der ambulanten Versorgung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Selbst in den Ländern gibt es unterschiedliche Modelle, so sind mal die Gesundheits- und mal die Innenministerien für die Rettungsdienste zuständig.

Die Reformansätze der früheren Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD), die Ähnliches versuchten wie Warken, sind unter anderem an derlei Kompetenzgerangel gescheitert. So hat Lauterbach vergeblich probiert, den Umbau der Notfallversorgung und der Rettungsdienste voneinander zu trennen, um eine Blockade der Länder zu umgehen.

Warken glaubt nach vielen Vorgesprächen jetzt, eine Mehrheit der Bundesländer auf ihrer Seite zu haben, sodass die Notfall- und Rettungsdienstreform aus einem Guss auch den Bundesrat passieren werde. In etwa zwei Tagen dürfte die neue Vorlage an die Länder und Verbände zur Stellungnahme gehen. Die Befassung des Bundeskabinetts ist nach F.A.Z.-Informationen dann für den Beginn des neuen Jahres geplant.

Einsparungen von gut 1,3 Milliarden Euro

Das Gesundheitsministerium wollte sich zu den Einzelheiten nicht äußern, bestätigte aber die Existenz des Referentenentwurfs und dass dieser nach der Frühkoordinierung am Mittwochnachmittag in die Ressortabstimmung gegangen sei. Mit der Vorlage versucht Warken die Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag mit der SPD zu erfüllen, neue Gesetze zur Notfall- und Rettungsdienstreform auf den Weg zu bringen.

Zu den Einsparmöglichkeiten präzisiert der Entwurf: „Insgesamt kann durch die Notfallreform langfristig mit jährlichen geschätzten Minderausgaben von gut 1,3 Milliarden Euro und weiteren noch nicht kalkulierbaren Effizienzgewinnen gerechnet werden.“

Im ersten Jahr, 2027, sei mit Einsparungen von 299 Millionen Euro zu rechnen, nach 2028 dann jeweils mit mehr als einer Milliarde Euro. Den größten Spareffekt werde jedes Jahr die „Abgabe der Hilfeersuchen von Rettungsleitstellen an die KVen“ nach sich ziehen – bis zu 700 Millionen Euro -, gefolgt von Einsparungen im Rettungstransport und der Verringerung von Notarzteinsätzen.

Das sei aber noch nicht alles an Sparpotential, so der Entwurf: „Berücksichtigt man noch weitere Folgekosten wie die der stationären Behandlung nach nicht bedarfsgerechten Rettungseinsätzen, dürfte sich ein weiteres Potenzial von über einer Milliarde Euro jährlich ergeben.“