Evonik-Chef Kullmann: „Die Kohlenstoffdioxid-Gebühr gefährdet 200.000 Industrie-Arbeitsplätze“

Herr Kullmann, Sie haben die angespannte Lage der Branche immer wieder betont. Nun musste Evonik die Prognose trotzdem senken. Warum kommt es noch schlimmer als erwartet?

Im Frühjahr sind wir noch davon ausgegangen, dass sich für uns wichtige Märkte etwas erholen könnten. Das ist nicht passiert. Um unsere Ziele für 2025 zu erreichen, hätten wir nur einen leichten Rückenwind gebraucht, oder wenigstens eine Flaute. Stattdessen gab es weiter Gegenwind, etwa durch die Zollpolitik des amerikanischen Präsidenten. Das hat sich wie ein Fallbeil für die weltwirtschaftliche Entwicklung ausgewirkt.

Produzieren Sie nicht längst lokal?

Ja. 80 Prozent unserer Güter für den US-Markt produzieren wir bereits dort. Aber die amerikanische Außenhandelspolitik mit hohen Strafzöllen gegen China und Indien hat zu einer enormen Verunsicherung geführt. Das hat auch bei uns negativ ins Kontor geschlagen.

Sie sprechen oft von der Balance Ihrer Regionen. Muss Evonik sein Portfolio nun neu austarieren?

Unser Ziel ist schon seit 2017, in jeder großen Wachstumsregion – Asien, USA, Europa – etwa ein Drittel unseres Ergebnisses zu erwirtschaften. Deutschland bleibt dabei immer unsere Heimat. Zugleich sehen wir, dass der Multilateralismus vorbei und eine multipolare Welt entstanden ist. Die Spielregeln des Welthandels, wie wir sie kannten, gelten nicht mehr. Auch die EU verstößt übrigens mit ihrer Handelsvereinbarung mit den USA gegen diese Regeln, indem sie die Meistbegünstigungsklausel außer Kraft setzt. Das geostrategisch ausbalancierte Portfolio von Evonik sichert uns in dieser Zeit eine größere Unabhängigkeit: Wer hinter der Zollmauer produziert, kann im Zweifel sogar profitieren.

Was heißt das für Ihre Investitionen? Fließt mehr Geld woanders hin?

Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel Geld in die Modernisierung und den Neubau von Anlagen investiert, im Durchschnitt 950 Millionen Euro je Jahr. Jetzt haben wir unsere Investitionen angepasst auf rund 800 Millionen Euro. Zugleich investieren wir nun stärker in sogenannte Schnelldreher.

Was ist damit gemeint?

Damit sind kleinere Anlagen gemeint, etwa zur Steigerung der Energieeffizienz, die viel schneller Gewinn abwerfen als Großprojekte. In schwierigen Zeiten ist das wichtig. Wir investieren rund 45 Prozent des Volumens in Europa. Unseren Sozialpartnern, die unser hartes Sparprogramm mittragen, haben wir zugesagt, die hiesigen Anlagen auszubauen und zukunftsfähig machen. Und wir stehen zu unserem Wort.

Das klingt nach einem echten Bekenntnis zum viel gescholtenen Standort.

Moment. Es gibt für mich keinen Wirtschaftspatriotismus. Wir müssen dort investieren, wo es für die Zukunft des Konzerns am besten ist, also dort, wo es Aussichten auf Wachstum gibt. Warum sollte das nicht Europa sein? Wir investieren hier gezielt und bewusst, gerade auch in Forschung und Entwicklung. Das sind 450 Millionen pro Jahr für unsere Produkte der Zukunft. Wir Europäer sind doch keine abgeschlagenen Verlierer!

Unternehmen klagen trotzdem über hohe Kosten für Arbeit und Energie, die Bürokratie und den ausufernden Sozialstaat. Was ist mit den Standortproblemen?

Richtig ist, dass es Europa derzeit schlecht geht, und Deutschland besonders schlecht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Schauen Sie nur auf die seit Jahren darniederliegende Konjunktur. Zugleich hat diese Region großartige Chancen: Wir haben ein exzellentes Forschungsnetzwerk, gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eine engmaschig vernetzte Industrie. Hinzu kommt: Rechtsstaatlichkeit ist in diesen Zeiten eine harte Währung. Zudem ist Europa als Markt deutlich größer als die USA. Warum sollten wir nicht in der Lage sein, diese Vorteile in Zukunft besser zu nutzen?

Sie sagen es; momentan dominieren die Schwierigkeiten. Wie hoch ist die Auslastung der Evonik-Werke?

Die Quote liegt bei rund 70 Prozent.

Verdienen Sie damit genug Geld?

2021 hatten wir eine Auslastung von 85 Prozent. Damals lag unser operativer Gewinn bei 2,4 Milliarden Euro, das war schon gut. Heute sind es weniger als zwei Milliarden. Immerhin gelingt es uns, die Preise für unsere innovativen Top-Produkte zu halten. Das geht nur, weil wir für unsere Kunden maßgeschneiderte Lösungen anbieten.

Liegen die europäischen Standorte unterhalb des Durchschnitts von 70 Prozent?

Gibt es Aussicht auf Besserung im kommenden Jahr?

Auch 2026 wird volkswirtschaftlich ein schwieriges Jahr werden. Was wir in Deutschland durch die Konjunkturspritzen für Verteidigung und Infrastruktur an Schwung gewinnen können, wird durch den weltweiten Protektionismus wieder gebremst. Und die Schwäche des Dollars im Vergleich zum starken Euro wird die Nachteile des Wirtschaftsstandorts Deutschland noch verstärken.

Sie stecken mitten im Sparprogramm „Evonik Tailor Made“. Müssen sie bei diesen Aussichten nachlegen?

Was wir jetzt tun, ist schon sehr einschneidend: Wir bauen weltweit rund 2000 Stellen ab, davon 1500 in Deutschland – darunter 500 Führungskräfte. Die Hierarchieebenen werden von zwölf auf sechs halbiert, dadurch wird die Komplexität erheblich reduziert. Wir machen den Konzern schlanker, effizienter und wettbewerbsfähiger. Weitere harte Maßnahmen sind aktuell nicht geplant.

Die 500 Milliarden Euro für Rüstungsausgaben wecken Phantasien quer durch alle Branchen. Auch bei Evonik?

Zunächst finde ich diese Konjunkturspritze wichtig und richtig. Wir reden jetzt viel über den Kauf von Panzern, Gewehren und Drohnen. Produkte von Evonik fließen auch in die Rüstungsindustrie. Aber wir brauchen für den Ernstfall auch eine industrielle, militärische Infrastruktur, die etwa die Versorgung mit Benzin und Diesel sichert. Dafür braucht es chemische Großanlagen, sogenannte Cracker, mit ihren nachgelagerten Wertschöpfungsketten, wie etwa jenen von BP in Scholven. Die Rohstoffe aus der Raffinerie sind auch für unseren Chemiepark in Marl wichtig. Statt solche Cracker zu schließen, sollte man sie für unsere Sicherheitsarchitektur erhalten.

Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender des Essener Spezialchemiekonzerns Evonik.
Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender des Essener Spezialchemiekonzerns Evonik.Evonik

Was wohl ähnlich wie bei den Reservegaskraftwerken wiederum Prämien an den Betreiber nach sich zöge, damit er die Kapazitäten vorhält.

Tatsache ist, dass wir zweifellos auch in Zukunft Raffinerien in Deutschland und Europa brauchen, um wirtschaftlich widerstandsfähig zu sein. Mit einer industriellen Wertschöpfungskette dahinter wäre eine Prämie für den Betreiber auf jeden Fall günstiger als ohne. So möchte ich das verstanden wissen.

Das hört sich nach sehr aktiver Industriepolitik an.

Die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern bedeutet zugleich wirtschaftliche Daseinsvorsorge zu leisten. Ein schlechtes Beispiel ist die Energiewende. Bis heute gibt es keine solide Analyse, wie viele Abermilliarden sie uns bisher gekostet hat. Das finde ich skandalös. Zugleich schwächen wir politisch unsere Wettbewerbsfähigkeit erheblich: In Herne etwa stellt Evonik hochwertige Vernetzer, etwa für die Flügel von Windrädern her. Das ist ein wichtiges Produkt für das Gelingen der Transformation. Leider ist es aktuell ein wirtschaftlicher Problemfall, wegen der Energiekosten. Schon heute belasten uns hohe Gebühren für CO2-Emissionen. Ab 2027 plant Brüssel eine drastische Verschärfung dieser Gebühren im Rahmen des ETS-Systems. Das gefährdet die Existenz vieler Unternehmen. Ursula von der Leyen, der Präsidentin der Europäischen Kommission, habe ich das bereits gesagt: Die CO2-Gebühr für Europa muss weg. Sie gefährdet in Deutschland mindestens 200.000 gut bezahlte Industrie-Arbeitsplätze.

Haben Sie ihr gesagt, dass Sie gegen die grüne Transformation sind?

Nein, im Gegenteil. Ich habe gesagt, dass die grüne Transformation der europäischen Volkswirtschaften hin zu einem effizienteren Einsatz von Ressourcen gut und richtig ist. Damit wir sie finanzieren können, müssen wir aber an den Weltmärkten erfolgreich sein. Aktuell wirkt das ETS-System aber wie eine Bleiweste, die man uns umhängt. Dann gibt uns Brüssel ein Paar neue Turnschuhe dazu und sagt: „Jetzt lauft mal schnell los!“ So funktioniert das nicht.

Viele Ökonomen halten den Emissionshandel nach dem Verursacherprinzip aber für den besten Anreizmechanismus, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren.

Das funktioniert nur, wenn auf der Welt alle mitmachen. Wir haben aber im internationalen Wettbewerb kein „level playing field“. Wir sind die einzigen, die mit dieser CO2-Gebühr belastet werden, die Konkurrenz in Asien und Amerika dagegen nicht. Deshalb muss das ETS abgeschafft oder radikal reformiert werden – und zwar schnell. Die nächsten Verhandlungen dazu laufen im Sommer 2026, dann muss dringend etwas passieren. Sonst demolieren wir unsere Industrie ein weiteres Mal.

Sie setzen also weiter auf kostenlose CO2-Zertifikate?

Ich setze darauf, dass diese Schizophrenie endlich erkannt und beendet wird: Wir haben eine Top-Technologie, die international voll wettbewerbsfähig ist. Dann legt Brüssel eine CO2-Gebühr drauf, und sie ist es nicht mehr. Aus den Erlösen wird dann ein Sozialfonds finanziert, der die Menschen nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes entschädigen soll. Das ist einfach bizarr.

Der Wind hat sich spätestens mit Trumps zweiter Amtszeit gedreht. Interessiert das Thema Nachhaltigkeit Ihre Kunden überhaupt noch?

Ja, das tut es. Aber wir müssen mit der Transformation Geld verdienen können. Niemand hat etwas davon, wenn wir einer moralisch aufgeladenen Klimahysterie folgen und Anlagen abgeschaltet werden müssen. Dann gibt es eine Million Arbeitslose mehr, und die AfD rennt von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Es bringt nichts, wenn wir so unsere Sozialsysteme ruinieren und dann sagen: Aber CO2 haben wir reduziert.

Die AfD wählt vielleicht auch der frustrierte Handwerksmeister, der nicht bald von der Regierung durch einen Industriestrompreis entlastet wird. Ist das vernünftig?

Je mehr Betriebe den Industriestrompreis bekommen, desto besser. Dabei gilt: Wer im internationalen Wettbewerb steht und besonders viele Arbeitsplätze bietet, sollte zuerst bedacht werden. Wir können jetzt nicht jeden Einzelhaushalt bedenken. So, wie es geplant ist, ist es sinnvoll.

Mit der neuen Wirtschaftsministerin Katherina Reiche müssen Sie demnach sehr zufrieden sein.

Wir haben mit Frau Reiche seit langer Zeit mal wieder eine Ministerin, die genau wissen möchte, was die grüne Transformation tatsächlich kostet und was sie bringt. Das ist keine moralische Erhabenheit und keine Besserwisserei, sondern schlichte mathematische Vernunft. Wichtig ist, dass wir das Notwendige tun. Das macht Frau Reiche bislang ordentlich.

Blick auf die BP-Raffinerie in Gelsenkirchen
Blick auf die BP-Raffinerie in GelsenkirchenAFP

Gilt das auch für den Bundeskanzler und den angekündigten Herbst der Reformen?

Wir haben jetzt einen Bundeskanzler, der das Machbare anstrebt und sich mächtig in die Seile legt, um vom Berliner Karussell abzusteigen. Dieses Karussell dreht sich laut und mit atemberaubender Geschwindigkeit um sich selbst, kommt dabei aber nicht voran. Demokratie ist die Kunst des Kompromisses, das haben wir in den vergangenen Jahren ein bisschen verlernt. Was 20 Jahre lang versäumt wurde, können wir nicht über Nacht aufholen. Deshalb stimme ich nicht in den Chor all jener ein, die sagen: „Jetzt sind 100 Tage vergangen, und es ist nichts passiert.“

Das Versprechen, die AfD zu halbieren, stammt aber von Merz selbst. Soll man ihn daran nicht messen?

Die AfD ist in der Parteienlandschaft angekommen, leider! Für die Ängste vieler Menschen ist sie eine gesellschaftliche Folie geworden. Echte Lösungen hat die AfD aber nicht. Die müssen jetzt andere bieten.

Sie warnen schon lange vor der AfD, gebracht hat das wenig. Auch unter Ihren Mitarbeitern dürfte die Partei Wähler finden. Haben Sie die Sorge, dass Ihnen das mal auf die Füße fällt? Andere Konzernchefs konzentrieren sich schlicht auf ihr Unternehmen.

Und die Politik nur den Berufspolitikern überlassen? Niemals. Ein Unternehmen mit rund 30.000 Mitarbeitern zu führen, heißt auch, Verantwortung zu übernehmen. Schweigen wäre feige. Regulierung, Protektionismus, Migration – wir leben in einer Welt, in der Wirtschaft politischer wird. Schon deshalb bin ich in der Pflicht, mit der Politik über solche Dinge zu streiten.

Kommunikator Kullmann

Die Industrie im Ruhrgebiet hat Christian Kullmann von seinem Büro im Evonik-Turm in Essen gut im Blick, egal ob es jetzt die BP-Raffinerie in Gelsenkirchen oder das Thyssenkrupp-Stahlwerk in Duisburg ist. Bis nach Brüssel reicht die Aussicht aus dem obersten Stockwerk nicht, doch hat der Vorstandsvorsitzende des Spezialchemiekonzerns die Pläne der EU derzeit besonders im Auge.Da ist er einer von vielen in der Industrie, der Chemieverband VCI hat kürzlich einen Politikbrief an Berlin und Brüssel adressiert, in der sein Präsident Markus Steilemann eine „spektakulären Aufholjagd“ der Industrienation Deutschland anmahnte.

Kullmann beherrscht die Lobby-Klaviatur ebenfalls, als VCI-Präsident war er Vorgänger des Covestro-Chefs Steilemann, und das mitten in der Corona-Pandemie. Das Amt strebt der 56 Jahre alte Manager nicht nochmals an, als Vorstandsvorsitzender eines Unternehmens, das aus der Ruhrkohle AG hervorgegangen ist und heute noch mehrheitlich der RAG-Stiftung gehört, bleibt Kullmanns Rolle allerdings ohnehin politisch. Kullmann füllt sie gerne aus, er ist Kommunikator.

Damit hatte er 1993 bei der Dresdner Bank angefangen. Später war er PR-Chef der RAG unter Werner Müller. 2014 rückte er in den Vorstand des Spezialchemiekonzerns auf, der da schon Evonik hieß. Sein Vertrag als Vorstandschef läuft bis Mai 2027. Derzeit hat der Vater zweier Töchter bei Evonik eine unerwartete Doppelrolle: Nach dem überraschenden Rücktritt der Finanzchefin Maike Schuh leitet Kullmann das Ressort kommissarisch, bis eine Nachfolge gefunden ist. Krise kann Kullmann schließlich. joja.