Evangelikale | „Am liebsten würden wir auswandern“

Jolene Jones ist trans Frau und hat ihre Kindheit unter Evangelikalen verbracht. Gefährlich sei diese religiöse und politische Gemeinschaft, vor allem für Minderheiten

Etwa 20 Prozent der amerikanischen Bevölkerung gehören zu den Evangelikalen, ihre religös-konservative Agenda nimmt vor allem Minderheiten wie LGBTQ+ ins Visier.

Jolene Jones kennt die religiöse Bewegung aus eigener Erfahrung. Während Jones in den 1980er Jahren in Louisiana aufwuchs, hat sie dort Alligatoren gejagt und viel Science-Fiction gelesen. Heute arbeitet sie als Datenschutzbeauftragte und befasst sich zudem als Autorin mit Horror in Fiction-Texten und religiösem Trauma in Sachbüchern. Sie und ihre Familie sind mittlerweile aus Texas geflohen.

der Freitag: Jolene Jones, erzählen Sie uns etwas über Ihren Hintergrund. Wie und wo sind Sie aufgewachsen?

Jolene Jones: Ich wurde auf einer amerikanischen Militärbasis in Stuttgart geboren. Als ich ein Jahr alt war, trennten sich meine biologischen Eltern, und meine Mutter zog mit mir nach Louisiana, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbrachte. Louisiana ist ein sehr spezieller Ort, was Religion angeht – es war früher eine französische Kolonie mit starker katholischer Präsenz, mit der Evangelikale konkurrierten.

Im Süden der USA ist der konservative weiße Evangelikalismus besonders verbreitet – die Bibel wird wörtlich ausgelegt, eine persönliche Beziehung zu Jesus steht im Vordergrund, und Seelenheil kann nur durch Gottes Gnade erreicht werden. Vermehrt fordern jetzt Historiker und Religionswissenschaftler, dass diese rein theologische Definition ausgeweitet werden sollte, da sie unvollständig ist – und auch politisch rechtskonservative Ansichten mit einschließen müsste. Wie hat dieser Evangelikalismus Ihre Kindheit geprägt?

Ich bin in einem evangelikalen Haushalt aufgewachsen. Und Evangelikalismus erwärmt sich nicht gerade für Menschen, die anders sind. Und ich war anders. Der evangelikale Aspekt meiner Kindheit hat vieles überschattet: Allein die körperliche Züchtigung war ein Teil meines täglichen Lebens. Ich wurde ein- bis zweimal am Tag ausgepeitscht – zum Beispiel, weil ich nicht „Sir“ oder „Ma’am“ gesagt habe.

Inwiefern hat die Glaubensgemeinschaft Ihre Kindheit geprägt?

Meine Kindheit war eine Art jahrelange Konversionstherapie. Wir sind dreimal in der Woche in die Kirche gegangen. Es wurde oft in der Bibel gelesen. Morgens lief der rechts-christliche Sender Trinity Broadcasting mehrere Stunden lang. Meine Eltern sahen sich als echte Christen, die die Bibel auf eine militante Art und Weise interpretiert haben. Meine Familie gehörte zur Assemblies-of-God-Kirche, und ich war ein Teil der „Royal Ranger Academy“, das war das Sommer-Programm der Assemblies-of-God-Kirche für Jungs. Ich habe mich da sehr engagiert, weil ich versucht habe, zu Hause nicht geschlagen zu werden. Also habe ich versucht, ihrem Männlichkeitsbild zu entsprechen. Wir hatten militärische Paraden, bei denen wir die christliche und die amerikanische Flagge hissten, und wir legten Gelöbnisse auf beide Flaggen ab.

Das klingt sehr militärisch.

Je älter ich wurde, desto militärischer wurde es, desto mehr fiel quasi die Maske. „Manifest Destiny“ zog sich durch das gesamte Programm, also die Vorstellung, dass es gut und richtig war, dass weiße Menschen das Land erobert haben. Gleichzeitig wurden die Miliz-Züge immer deutlicher. Eines unserer Camps nannte sich „Special Forces“, und ehemalige Soldaten leiteten Bootcamps.

Wann war Ihr Coming-out?

Ich bin auf ein konservatives College gegangen und habe dort meine Partnerin getroffen. Tatsächlich hatte ich quasi zwei Coming-outs – einmal das als Atheistin und einmal das als trans Frau. Ich hatte diesen einen Moment, wo mir eine innere Stimme sagte: „Hey, du Idiotin, du weißt doch, dass du ein Mädchen bist! Und du warst es immer schon!“ Und schließlich habe ich mich getraut, mich ihr gegenüber zu outen.

Zur Person

Foto: privat

Jolene Jones lebt in den USA und berät Firmen zu Sicherheits- und Datenschutzfragen. Als trans Frau engagiert sie sich in Texas für die Rechte von trans Menschen. Auf Twitter ist sie als @isjoleneaghost unterwegs

Und die Reaktion war positiv?

Sie hat einen Moment gebraucht, um das zu verarbeiten. Dann hat sie mich mitgenommen, um Frauenkleider zu kaufen. Die habe ich zu Hause anprobiert und sie sagte, sie habe mich noch nie so glücklich gesehen. Es hat geholfen, dass sie gerade begonnen hatte, zu realisieren, dass sie lesbisch ist.

Sie leben jetzt, da wir sprechen, noch in Austin, Texas. Wie ist dort das Klima für trans Personen, hat es sich verändert?

Austin gilt als liberale Stadt. Aber auch hier bin ich beschimpft worden. Man hat sich geweigert, mich in Läden zu bedienen. Der Kontakt zu lokalen queeren und trans Gruppen hat sehr geholfen, dort habe ich endlich Akzeptanz erfahren. Ich spreche nicht mehr mit meiner Familie. Außer mit meinem Bruder, er unterstützt mich sehr.

Wie ist die Lage für trans Personen in Texas generell – oder in anderen republikanisch regierten Bundesstaaten?

Wir sehen Versuche, durch Einschüchterung oder Gesetzgebung den Zugang zu Gender-Affirming Healthcare zu erschweren oder unmöglich zu machen. Wenn das passiert, wenn einer trans Person, die eine solche Gesundheitsbehandlung vorher erhalten hat, diese verweigert wird, zwingt man sie zum langsamen körperlichen Verfall. Christlicher Dominionismus – der Glaube, dass Christen alle Bereiche der Gesellschaft dominieren müssen und ihre Gesetze für alle gelten sollen – spielt eine große Rolle bei Leuten wie zum Beispiel dem Gouverneur Greg Abbott und vor allem bei seinem Lieutenant Governor, Dan Patrick. Sie sind geduldig, sie setzen auf spaltende Themen und schaffen es so, dass ihre christlichen Ideale in den Mainstream einfließen.

Ist die Bewegung gewaltbereit?

Ich bin unter Leuten aufgewachsen, die sich zustimmend darüber geäußert haben, eine homosexuelle Person an einen Truck zu binden und durch die Gegend zu schleifen. Ich kenne viele Leute, die es berauschend fänden, eine trans Frau vor die Gemeinde zu zerren und, wenn sie keine Buße tut, ihre Existenz zu beenden. Diese Leute wollen, dass trans Menschen aufhören zu existieren. Es hat einen genozidalen Charakter.

Was erwarten Sie von der nächsten Legislaturperiode in Texas und den anderen republikanischen Staaten?

Das langfristige Ziel ist die Kriminalisierung und der Ausschluss von LGBTQ-Personen aus der Öffentlichkeit. Außerdem werden wir sehen, wie die Abtreibungsgesetze noch schärfer werden. Gesetze sind das eine – aber in Bezug auf LGBTQ-Menschen, vor allem trans Menschen, werden Menschen anfangen, andere auf der Straße als solche zu identifizieren. Es wird zu Gewalt gegen Menschen kommen, die nicht konform mit konservativen, christlichen Vorstellungen von Gender sind.

Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, die USA zu verlassen?

Natürlich. Ich bin eine trans Frau, meine Partnerin ist eine Schwarze Frau. Wir sind hier nicht sicher. Wir verlassen zwar Texas, wie viele andere auch, aber es gibt keine Garantie dafür, dass mit einem republikanischen Präsidenten 2024 nicht auch nationale Verbote in Bezug auf LGBTQ-Personen kommen werden. Wir würden gern auswandern. Nach Deutschland zum Beispiel, aber das ist nicht so einfach. Vor allem für Angehörige marginalisierter Gruppen ist es oft besonders schwierig, eine längere Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Und dann ist da noch der finanzielle Aspekt: Trans Frauen verdienen im Durchschnitt nur etwas mehr als die Hälfte des Lohns eines Arbeitnehmers.

Neben dem finanziellen Aspekt, was ist besonders frustrierend?

Trans Menschen und ehemalige Evangelikale haben seit sehr langer Zeit vor dieser politischen Bewegung und ihren Zielen gewarnt. Man hat ihnen nicht geglaubt. Diejenigen, die sich mit uns verbünden, sollten nicht nur online Sachen posten, sondern sie sollten auch physisch für uns eintreten – das bedeutet zum Beispiel, zu Demonstrationen zu gehen, um gegen neue, restriktive Gesetze zu protestieren.

Annika Brockschmidt ist Autorin, Journalistin und Co-Moderatorin des Podcasts Kreuz und Flagg . Sie beschäftigt sich vor allem mit Themen wie der religiösen Rechten in den Vereinigten Staaten. Ihr Buch Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet erschien 2021 bei Rowohlt

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