Europäische Zentralbank: Alles im Griff – oder?
So einfach hatten es die Währungshüter mit ihrer Zinsentscheidung lange nicht. In den vergangenen Monaten hat sich die Inflationsrate im Euroraum
stetig dem Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent angenähert.
Im Mai lag sie sogar erstmals wieder etwas darunter, und zwar bei 1,9 Prozent. In Deutschland
waren es 2,1 Prozent. Der Kampf gegen den Anstieg der Preise scheint
vorerst gewonnen.
Die Zinssenkung der EZB an diesem Donnerstag um weitere 0,25
Prozentpunkte galt deshalb als ausgemacht. Es ist bereits die achte Zinssenkung
in Folge. Nach 4,0 Prozent im vergangenen Sommer beträgt der Einlagezinssatz der EZB
inzwischen nur noch 2,0 Prozent. Und das könnte erst mal so bleiben –
vorausgesetzt, die Inflation bleibt im angestrebten Bereich und die Wirtschaft
kommt wie erhofft in Schwung.
Mit Blick auf die Inflation hat
sich das Vorgehen der EZB bewährt. „Die restriktive Geldpolitik hat nachhaltig
ihre Wirkung gezeigt“, sagt die Ökonomin Lena Dräger vom IfW Kiel. Für den
Rückgang der Inflation ist die Zentralbank aber nicht allein verantwortlich. Unter
anderem der starke Euro hat zuletzt den Anstieg der Preise gedämpft. Weil der
Euro im Zuge der Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump gegenüber dem
US-Dollar zugelegt hat, werden Importe hierzulande günstiger. Außerdem sind die
Ölpreise gesunken. „Beides hat
dazu beigetragen, dass der Rückgang der Inflationsrate in der Eurozone etwas
stärker als erwartet ausgefallen ist“, erklärt Dräger.
Die Wachstumsschwäche ist längst das größere Problem
Ob sich der Rückgang fortsetzt, ist angesichts der erratischen Politik von
US-Präsident Trump schwer vorzusagen. Sollte zum Beispiel China vermehrt Waren,
die ursprünglich in die USA gehen sollten, in Europa anbieten, könnte das die
Preise weiter drücken. Mögliche Gegenzölle der EU könnten die Inflationsrate
allerdings auch wieder steigen lassen. Genauso wie eine Erholung der Wirtschaft
und die geplanten steigenden Staatsausgaben.
Ökonominnen halten
die Risiken jedoch für überschaubar. „In Bezug auf die
Inflationsrate müssen wir uns im Moment keine großen Sorgen machen“, sagt
Dräger. Die Situation sei deutlich robuster als vor dem Anstieg der Inflation. Das
aktuelle Zinsniveau gebe der EZB zudem noch genügend Spielraum in beide
Richtungen, um auf eine veränderte Lage zu reagieren. Die EZB selbst erwartet,
dass die Inflation im Jahr 2025 im Schnitt bei 2,0 Prozent liegen wird und 2026
bei 1,6 Prozent.
Größere Sorgen macht schon länger nicht mehr die Inflation,
sondern die wirtschaftliche Entwicklung – vor allem in Deutschland, der größten
Volkswirtschaft der Eurozone. Die Zinspolitik zielte darauf ab, die
Konjunktur zu schwächen und so den Anstieg der Preise zu bremsen. Einigen
Ökonomen ging die EZB dabei zwischenzeitlich zu weit, ihnen war die Geldpolitik
zu restriktiv. Nicht wenige forderten ein expansiveres Vorgehen, um die schwache
deutsche Wirtschaft in Schwung zu bringen und bezeichneten die Zinssenkungen
der EZB als zu zögerlich. Schließlich näherte sich die Inflation im Euroraum schon
länger der Zielmarke der Zentralbank. In manchen Ländern lag sie zuletzt sogar
schon weit darunter. In Frankreich legten die Preise im Mai gegenüber dem
Vorjahresmonat nur noch um 0,6 Prozent zu.
Weitere Zinssenkungen möglich
Der deutschen Wirtschaft droht nach zwei Jahren der
Rezession in diesem Jahr eine Stagnation der Wirtschaftsleistung und damit ein
weiteres Jahr ohne Wachstum. Erst im kommenden Jahr dürfte sie wieder etwas
stärker zulegen. Gerade die exportorientierte deutsche Wirtschaft leidet unter
dem anhaltenden Zollchaos. Hoffnung auf Wachstum machen neben den Zinssenkungen der EZB die geplanten Investitionen
in Infrastruktur und Verteidigung sowie die milliardenschweren Steuerentlastungen
für Unternehmen, die das Bundeskabinett am Mittwoch beschlossen hat.
Die EZB erwartet für die Eurozone in diesem Jahr ein
Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent. Im kommenden Jahr soll die
Wirtschaftsleistung um 1,1 Prozent zulegen. Die vergangenen Jahre haben jedoch gezeigt, dass jederzeit etwas Unerwartetes
dazwischenkommen kann. In Deutschland hat sich der erhoffte Aufschwung mehrfach verschoben. Und seit dem Amtsantritt von Trump ist die Unsicherheit für
die Weltwirtschaft stark gestiegen. Sollte sich die Schwächephase in
Deutschland fortsetzen, verschlimmern oder auf andere Länder ausweiten, könnte die EZB mit weiteren
Zinssenkungen unterstützend eingreifen. Vor allem, wenn es darum geht, stagnierenden oder sogar fallenden Preisen
entgegenzuwirken – was nicht ungewöhnlich ist, wenn die Wirtschaft schlecht läuft.
Zu ihrem weiteren Vorgehen hält sich die Zentralbank wie immer
bedeckt. „Wir sind gut aufgestellt, um mit den Unsicherheiten umzugehen“, sagte
Zentralbankpräsidentin Christine Lagarde nach der Zinsentscheidung. Die EZB sei
jederzeit bereit, ihre Instrumente anzupassen. Viele Beobachter rechnen nun mit
einer Zinspause, also dass die Währungshüter auf ihrer nächsten Sitzung Ende Juli zunächst abwarten und keine
weitere Zinssenkung vornehmen werden. Die Ökonomin Dräger ist jedoch
überzeugt: „Sollte die wirtschaftliche Wende ausbleiben und die Inflation
weiter sinken, ist in der zweiten Jahreshälfte mit weiteren Zinssenkungen zu
rechnen.“