Euro-Wirtschaft im Syllabus: Deutschland überholt Frankreich

In den kommenden beiden Jahren könnte Europa etwas erleben, was es seit Langem nicht mehr gegeben hat. Zum ersten Mal seit fast einem Jahrzehnt könnte die deutsche Wirtschaft schneller wachsen als die Eurowirtschaft insgesamt oder als der zweitgrößte Mitgliedstaat Frankreich. Das zeigen die jüngsten Konjunkturprognosen der großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute oder von Bankvolkswirten. Zum Beispiel erwartet Goldman Sachs für das kommende Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent in Deutschland, von 1,2 Prozent im Euroraum und von 0,8 Prozent in Frankreich.
Der schuldenfinanzierte fiskalische Schub, den die Bundesregierung in Gang setzt, wird demnach Deutschland an die Spitze der europäischen Wachstumsskala schieben. Jenseits des Rheins mehren sich derweil die Risiken, dass die politische Krise um eine Rentenreform und um Kürzungen von Staatsausgaben voll auf die Wirtschaft durchschlagen könnte. In den vergangenen Jahren waren die Rollen im Euroraum anders verteilt gewesen. Frankreich hatte mit einer gewissen ökonomischen Stabilität überrascht, während die deutsche Wirtschaft in die Stagnation und Rezession abrutschte. Dieses Muster dreht Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit seiner fiskalischen Rosskur nun um.
Konjunktur im Euroraum
Zur Konjunkturlokomotive in Europa – einem früher in Frankreich und in Deutschland verbreiteten Sprachbild und Denkmuster – wird Deutschland damit nicht. Die Überschwappeffekte der fiskalischen Expansion in Deutschland auf andere Länder des Euroraums sind gering. Zu diesem Schluss kommt der Goldman-Sachs-Ökonom Alexandre Stott.
Welche Auswirkungen hat die politische Krise in Frankreich?
Nach seinen Berechnungen führt eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben in Deutschland um einen Prozentpunkt, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, zu einem BIP-Anstieg in anderen Eurostaaten um magere 0,1 Prozent. Der deutsche Fiskalimpuls wirkt demnach stärker in den Niederlanden als in anderen großen Mitgliedstaaten wie Frankreich, Italien oder Spanien. Insgesamt dürfte die fiskalisch generierte Nachfrage die deutsche Wirtschaft hervorstechen lassen, weniger aber das europäische Wachstum, resümiert Stott. Dazu trägt nach der Analyse auch bei, dass die mit der deutschen Kreditaufnahme steigenden Zinssätze die Kreditkosten auch in den anderen Staaten des Euroraums erhöhen.
Ob die politische und fiskalische Krise in Frankreich ähnlich spurlos an den anderen Eurostaaten vorbeigeht wie die deutsche fiskalische Expansion, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Ansteckungsrisiken seien recht gering, meinen die Ökonomen von Capital Economics, einem britischen Forschungsinstitut. Es gebe keine großen regionalen Ungleichgewichte im Euroraum, die einst die von Griechenland ausgelöste Eurokrise mit befeuert habe. Der fiskalische Ausblick in anderen Eurostaaten sei weniger beunruhigend als in Frankreich; die Investoren an den Finanzmärkten würden zwischen den Risiken in Frankreich und anderswo unterscheiden.
Carsten Brzeski, der Chefökonom der ING-Bank, schließt eine indirekte Ansteckung indes nicht aus. Das französische Dilemma sei nicht einzigartig, viele europäische Länder seien in einer ähnlichen Lage, argumentiert Brzeski. Der Fall Frankreichs sei für Länder wie Deutschland die Warnung einer Zukunft, in der fiskalische Stimuli nicht durch strukturelle Reformen für mehr Wachstum unterfüttert würden.
Die öffentliche Zinslast für die Volkswirtschaften im Euroraum (ohne Deutschland) steige von 2,5 Prozent im vergangenen Jahr bis 2026 und 2027 auf 2,9 Prozent des BIP, warnen die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Das durchschnittliche Staatsdefizit werde sich von 3,3 auf 3,4 Prozent des BIP erhöhen.
Gegen eine Ansteckung mit dem französischen Virus führen viele Ökonomen indes an, dass die Europäische Zentralbank (EZB) seit der Eurokrise und Griechenland neue Instrumente geschaffen habe, um gegen zu große Zinsdifferenzen der Eurostaaten vorzugehen. Diese Instrumente dann einzusetzen, wenn Mitgliedstaaten ihre fiskalische Krise selbst verursacht haben, würde den fiskalpolitischen Schlendrian im Euroraum indes begünstigen.
Die unspektakulären, aber eher positiven Konjunkturaussichten im Euroraum geben der EZB nach Meinung vieler Ökonomen den Spielraum, den wichtigsten Leitzins vorerst auf zwei Prozent zu belassen. Die Inflationsaussichten liegen für die kommenden Jahre um zwei Prozent. Die konjunkturelle Dynamik bleibe bis 2027 moderat, erwarten die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute: keine nennenswerte Belebung, aber auch keine stärkeren Rückschläge. Belastend wirken der stärkere Euro und die höheren amerikanischen Zölle.
Die andauernd hohe handelspolitische Unsicherheit dürfte die Investitionen bremsen. Doch sind die üblichen Indikatoren für die Unsicherheit im Außenhandel zuletzt gesunken, was auf eine allmähliche Entspannung der Lage im amerikanisch inszenierten Handelskonflikt hindeutet. Goldman Sachs erwartet, dass die wachstumshemmenden Folgen der Zollpolitik Trumps bis Jahresende ausklingen. Gestützt werden könnte die Eurokonjunktur durch den privaten Konsum, weil die Reallöhne wohl weiter steigen.
Die Institute erwarten für den Euroraum im kommenden Jahr eine leichte Verlangsamung des Wachstums von 1,3 auf 1,1 Prozent, aber eine Beschleunigung auf 1,4 Prozent im Jahr 2027. Die Verlangsamung im Jahr 2026 gründet nach dieser Analyse vor allem darauf, dass die starke Exportkonjunktur in Irland entfalle. In diesem Jahr haben die Zolldrohungen des amerikanischen Präsidenten Donald Trump dazu geführt, dass in Vorgriff große Mengen an Pharmazeutika von Irland in die Vereinigten Staaten geliefert wurden. Dieser Vorzieheffekt ist nicht von Dauer.