Erweiterung der EU | Balkan, Blues & Brüssel

Ironie der Geschichte. Bitteres Sichdrehen im Kreis. Nato-Bombardements in den Neunzigern. Gegen Hass und Massaker. Für Rettung von Menschenleben. Nachdem man zugeschaut hatte. Feinde auseinander dividiert. Ohne UN-Mandat, aber mit westlichem Wohlwollen. Nach westlichem Schwertun. Und Titos Tod. Wo alle wissen konnten, dass das unter einem Diktat nicht gut gehen würde. Nun sollen sich alle in der Europäischen Union wieder treffen. Serben, Bosnier, Herzegowiner, Montenegriner, Kroaten, Slowenen, vielleicht Kosovaren. Orthodoxe, Moslems, Erz-Katholiken. Des Geldes wegen, als Korsett schlechten Gewissens. Aus Expansionslust. Oder um eines Friedens Willen. Der lange kein Frieden war. Sein wollte. Sein wird.
Wer den kroatischen Schriftsteller Miljenko Jergović liest, weiß um die Verlogenheiten. Die Widersprüche auf dem Balkan. Die inneren und die zu anderen. Verstörende Vergangenheit. Drangsalieren und deportieren. Vertreiben und verhaften. Kämpfen und sich unterordnen. Errichten und zerstören. Töten und umarmen. Spielarten, die wir alle kennen. Umso unverständlicher, dass erst das Dach kommen soll, unter dem Bewohnbares gezimmert wird. Für alle und jeden Einzelnen. Alte Ressentiments lassen sich nicht einfach wegwischen. Neue Grenzen bedeuten nicht per se versöhnliche Seelen. Und zivilen Umgang. Brüssel hat keine wirklichen Rezepte. Gegen die Vučićs ebenso wenig wie gegen die Orbans.
Die EU unter den Alten ist schon ein Graus. Findet nur schwer einen Nenner. Wirtschaftlich nicht. Und politisch nicht. Flüchtlinge werden darob ins Mittelmeer zurückmanövriert. Werden Opfer brutaler Pushbacks. Oder in die Türkei verkauft. Merkel-Bashing. Die Briten, einst ein Pfeiler, wenden sich ab. In Italien regieren Neofaschisten. In Frankreich lauern sie in Startlöchern. Anderswo hat der Papst mehr oder minder offen das Sagen. Von europäischer Aufklärung nur schwache Spuren. Die humanistischen Fundamente wackeln nahezu überall. Immer wieder. Vermeintlich stabile Platten verschieben sich zusehends. Wie bei Erdbeben. Trügerische Ruhe bisweilen. Stürme stets im Anmarsch. Eine beängstigende Dynamik.
Wäre diese Welt ein Giro-Konto, jeder Sparkassen-Filialleiter würde Konsolidierung auferlegen. Nachdenken über Soll und Haben. Kredite würden gar nicht erst vergeben. Brüssel aber belässt es bei Empfehlungen. Schaut mal hier und da ins Online-Banking. Klopft nicht gründlich ab. Wer rein will in die Europa-Passage, dessen Haus braucht einen flotten Anstrich. Mehr nicht. Hinter die Wände blicken, von wegen. Keine Schufa weit und breit. Korruption. Rechtsbeugung. Diskriminierung. Frauenfeindlichkeit. Fremdenhass. Missbrauchsskandale. Umweltzerstörung. Gehört alles quasi zur Grundausstattung, um aufzurücken. Konsequenzen werden via anderweitigem Entgegenkommen und Handreichen entschärft.
Der Balkan-Blues aus jugoslawischen Feindschaften ist längst nicht verklungen. Auch wenn es stiller geworden scheint. Und die, die schon immer zugetaner waren, zugetan bleiben. Wunden reißen wiederholt auf. Wenn etwa der Bürgermeister der kroatischen Hafenstadt Pula „Turbo-Folk“-Künstlern aus Serbien den Auftritt verbietet. Weil sie mit ihrer Musik und ihren Texten nicht zum prowestlichen Aufbruch passten. Zu martialisch. Zu männersichtig. Zu restaurativ. Dabei ist der Hrvatska-Pop nicht besser. Nicht weniger dröhnend. Nicht freundlicher mit Bildern. Nur eben kroatisch. Man darf gespannt sein, welche Songs sich Herren aus Zagreb und Belgrad in Brüssler Bars vorspielen. Und wann, nach reichlich Bier, die Messer gewetzt werden.
Der Westbalkan in der EU ist einerseits folgerichtig. Andererseits ein weiteres Hindernis. Auf dem Weg, endlich ein bisschen Klarheit zu bringen. In das, was einiges Europa sein soll. Eine Gemeinschaft gleich liberal Wohlgesinnter. Oder eine Gemeinschaft für politische Sekunden-Kleber. Fürs Zusammenpappen dürfte es reichen. Für mehr wohl kaum. Das zeigen die vergangenen Jahre. Das zeigt die Gegenwart. Das zeigt die Haltung zum Russland-Ukraine-Krieg. Nur mühsam ist die Union der Europäer auf einen Nenner zu bringen. Auch die Nato nicht. Neue Zugänge versperren da zunehmend Auswege. So ist zu befürchten. Probleme werden größer. Lösungen rücken weiter in die Ferne. Kein fester Kern. Nur eine spröde Schale.
Wer da Avancen macht, betrügt. Sich selbst. EU-Staaten, die sich schon jetzt um nichts scheren. Und solche, die, Blick voraus, darauf setzen. Auf die Kür. Nicht die Pflicht. Darunter leidet nicht nur ein gerechtes, offeneres Europa. Darunter leiden vor allem die, die in ihren Ländern auf Rechtsstaatlichkeit setzen. Auf Toleranz, menschliche Haltung. Die sich Hilfe erhoffen. Und Hilflosigkeit ernten. Dort, wo ihnen geholfen werden müsste. In Brüssel. Wo im Nu aus Tigern Bettvorleger werden. Für Betten, in denen sich nicht sanft schlafen lässt. Weil immer neue Ungeheuerlichkeiten aufbrechen. Und zumindest geduldet werden. Weil Panzer-Lieferungen grünes Licht brauchen. Oder Bollwerke gegen Fremde und Fremdes gesucht werden.