Ernstfall | Eine latente Vorkriegsstimmung hält die deutsche Gesellschaft in Schach

Was derzeit an der Schwelle zu direkter militärischer Gewalt geschieht, ist erschreckend: Die Rhetorik wird aggressiver. Es gibt Sabotage, Spionage, Cyber-Operationen und die Drohnen-Frage. Wie weit ist es noch bis zum „Schießkrieg“?


Genießt die Bundeswehr demnächst vielleicht Kultstatus?

Foto: Max Brugger/Laif


Der 2. Oktober war der Internationale Tag der Gewaltlosigkeit. Beschlossen wurde er von der UN-Generalversammlung 2007 zu Ehren des indischen Pazifisten Mahatma Gandhi. Eine nachhaltige friedenspolitische Wirkung hat dieser Gedenktag bislang aber nicht entfaltet. Wie auch, solange sich Politiker herausnehmen, das in der UN-Charta verankerte Verbot jeder gegen die territoriale Unversehrtheit oder Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt zu missachten?

Das Ergebnis ist eine Dynamik von enormer transformativer Kraft. Der Blick in die Ukraine und nach Gaza reicht aus, um deren zerstörerische Folgen für Gesellschaften und Staaten zu erkennen. Hier wie dort tobt kollektive Gewalt in ihrer brutalsten Form – der des Krieges. Die UN-Charta bezeichnet ihn zu Recht als „Geißel der Menschheit“. Nur fallen Kriege nicht schicksalhaft vom Himmel, sondern sind menschengemacht. Erst einmal ausgebrochen, lassen sie sich schwer wieder beenden. Also sollte man alles daran setzen, sie von vornherein zu vermeiden.

Einfacher gesagt als getan, wenn „Pfadabhängigkeiten“ entstanden sind, die in eine falsche Richtung weisen. Ausgelöst durch Russlands Angriff auf die Ukraine und den Unwillen auf beiden Seiten, wenigstens eine Waffenruhe auszuhandeln, machen sich die transformativen Kräfte des Krieges zunehmend auch in Deutschland bemerkbar. Das verdeutlichen drei Beispiele. Auf sprachlicher Ebene ist der Kriegsbegriff mittlerweile omnipräsent. Hatte ihn die deutsche Politik im Fall Afghanistan zunächst vermieden, so sickerte er – als der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ab März 2010 das K-Wort benutzte – in den Sprachgebrauch ein.

„Hybrider Krieg“: Propaganda, Sabotage, Desinformation, Spionage

In Sachen Ukraine ist es unstrittig, dass dort ein Krieg tobt, an dem Deutschland nicht direkt teilnehmen will. Dessen ungeachtet verfolgt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) das erklärte Ziel, Deutschland „kriegsfähig“ machen. Man sei zwar noch nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden, so die Lesart von Kanzler Friedrich Merz.

Wie sehr sich der Kriegsbegriff etabliert hat, sieht man daran, dass mittlerweile unreflektiert ein „hybrider Krieg“ beschworen wird. Darunter fällt alles, was unterhalb der Schwelle zu direkter militärischer Gewalt geschieht: Propaganda, Sabotage, Desinformationskampagnen, Spionage, Cyber- und Drohnen-Operationen. Wenn das alles bereits „eine Art Krieg“ ist – wann beginnt dann der „Schießkrieg“ an sich?

Auch dem Begriff „Zeitenwende“ lassen sich enorme transformative Wirkungen bescheinigen. Geprägt 2022 vom damaligen Kanzler Olaf Scholz (SPD), sollte damit eine massive Aufrüstung als Reaktion auf das Verhalten Russlands gerechtfertigt werden. Lagen Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Verteidigungsausgaben noch bei 35 Milliarden Euro, erreichten sie 2024 den vorläufigen Zwischenstand von 90 Milliarden und sollen bis 2029 auf 153 Milliarden steigen, sodass exorbitante Staatsschulden zu erwarten sind.

Zugleich soll – der unausgesprochenen Devise „Kanonen statt Butter“ folgend – der Sozialhaushalt gekürzt werden. Zu den 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für den Militäretat kommen 1,5 Prozent für „sicherheitsrelevante Ausgaben“. Die Rüstungsproduktion expandiert wie nie zuvor seit Ende des Kalten Krieges, die Zahl der Soldaten soll um 80.000 auf 260.000, die der Reservisten um 200.000 steigen. Der Wehrdienst kehrt zurück, zunächst auf freiwilliger Basis, sollte das nicht reichen, dann verpflichtend – doch will die CDU diesen Ansatz nun nicht mehr mittragen.

Militarisierung der Gesellschaft

Auf sozialpsychologischer Ebene äußert sich die transformative Kraft des Krieges durch verhärtete Feindbilder wie eine erkennbare Militarisierung der Gesellschaft. Wie schon bis 1990 üblich, wird gebetsmühlenartig eine mutmaßliche russische Bedrohung bemüht, die zum Angriff auf die NATO schon in wenigen Jahren führen werde. Dass russische Kampfjets im Luftraum von Mitgliedsstaaten auftauchen, gilt als Beleg für aggressive Absichten. Experten und Politiker wie der bayrische Regierungschef Markus Söder fordern forsch den Abschuss eindringender Flugobjekte. Ein anderer Unionspolitiker verlangt die Ausrufung des „Spannungsfalls“ als Vorstufe des „Verteidigungsfalls“.

Obwohl die russische Armee in dreieinhalb Jahren Krieg noch nicht einmal den gesamten Donbass erobert hat, geht man davon aus, dass sie in einigen Jahren stark genug sein wird, den militärisch und wirtschaftlich überlegenen Westen anzugreifen. In den Medien werden Kritiker der aktuellen Ukraine-Politik als „realitätsferne Spinner“ oder „Lumpenpazifisten“ verunglimpft. Kommentare eskalieren verbal, wenn erklärt wird, statt von der Ostflanke der NATO solle man besser wieder von einer „Ostfront“ sprechen.

In der Gesellschaft resultiert aus dem vermittelten Gefühl, durch Russland bedroht zu sein, mehr Wehrbereitschaft. Der Anteil junger Männer, die Interesse am Soldatenberuf haben, steigt seit 2024 erstmals wieder. Die Zustimmung zum ostentativ erhöhten Verteidigungsetat und mehr Soldaten verbucht mit knapp 60 Prozent zuvor selten erreichte Stimmungswerte. Genießt die Bundeswehr demnächst gar Kultstatus?

Die skizzierten Tendenzen sind miteinander verschränkt und verstärken sich gegenseitig. Sie gewinnen an Dynamik durch innere und äußere Triebkräfte, die in eine Richtung weisen: den befürchteten, tatsächlich aber erwarteten militärischen Schlagabtausch mit Moskau. Natürlich will keiner einen Krieg mit einer Nuklearmacht dieses Kalibers anzetteln. Alle wollen „nur abschrecken“ (wobei einige daran viel Geld verdienen und wollen, dass es so bleibt).

Doch erfasst die transformative Kraft des Ukraine-Krieges auch Deutschland und wird zum Sicherheitsdilemma, weil die Gefahr so real ist, dass ein ungewollter Krieg immer unaufhaltsamer wird, sofern eine Kurskorrektur ausbleibt. Statt dies weiterhin nicht wahrhaben zu wollen, ist es höchste Zeit, dass Berlin seine reklamierte EU-Führungsrolle mit Initiativen zur Trendumkehr unter Beweis stellt. Enthält das Grundgesetz nicht den Auftrag, dem Frieden in der Welt zu dienen?