Erinnerung und Gedenken: Landschaft als Spur

Landschaft als Spur – Seite 1

„Sandsteine (…) durchschossen theilweise von sehr feinkörnigen, dünn spaltbaren, schwarzen Thonschiefern.“ Es ist ein in der Erscheinung schlichtes Buch aus dem Jahr 1903, das mir für kurze Zeit eine Lösung oder zumindest etwas Klärung versprach: Der Geologische Führer von Dr. Friedrich Katzer, Mineraloge und Geologe für die Bosnisch-Hercegovinische Geologische Landesanstalt, erschien anlässlich des IX. internationalen Geologencongresses in Sarajevo. Dem Buch gefaltet beigelegt sind mehrere unter Katzers Beteiligung entstandene Karten.

Ungefähr am selben Ort, an dem Friedrich Katzer seine reisekundlichen und geologischen Excursionen unternahm, in der Nähe von Prijedor, im Norden von Bosnien, stand ich mehr als 100 Jahre später vor einer Ankündigung. Es war Sommer. Dort stand, die Beisetzung der im Krieg Getöteten finde am nächsten Tag statt.

„30 Godina od ubijanja, mučenja, zatvaranja
Srijeda, 20.07.2022. Godine
Memorijalni Centar Kamičani od 12 Sati“

Übersetzt heißt die erste Zeile: 30 Jahre seit Mord, Folter, Gefangenschaft. Die Ankündigung enthielt weiter eine Liste mit Namen; sofern ich es der Ankündigung richtig entnehmen konnte, handelte es sich ausschließlich um Männer, mit Ausnahme einer Frau. Ein Merkmal stach besonders hervor: Alle waren im Jahr 1992 gestorben.

Aus dieser kurzen Reise, die ich letztes Jahr in Begleitung eines Freundes angetreten bin, sind ein paar Fotografien entstanden, unter anderem von dieser Ankündigung. Außerdem ein paar mehrminütige Videos der Beisetzung am darauffolgenden Tag. Etwas abseits des Friedhofs standen in einer Linie aufgereiht die Vitrinen, deren Inhalt mir vertraut war. Es waren aus den Massengräbern entnommene Fundstücke. Uhren, Schuhe und Gebisse.

Auf Zetteln waren die Jahre der Ausgrabungen vermerkt: 2001, 2013, 2017. Und die Orte, darunter Tomašica. Während mein Blick auf der umliegenden Landschaft ruhte, wusste ich wie so oft nicht, was ich im Grunde sah, eine grüne Fläche Erde oder doch so etwas wie ein historisches Erbe. Mir war, als spielte es keine Rolle. Meine eigenen Kübel und Pickel blieben im Kofferraum.

10 nach 8 Bosnien Landschaft
Private Fotoaufnahme der Autorin von ihrer Reise nach Bosnien

Auf meinem Handy verzeichnet sind Notizen, die mir als Hinweise auf mögliche Verbindungen zu diesem Ort in Bosnien gedient hatten: Hitlers Rekruten, der Kampf der Partisanen gegen die von den Deutschen gestützten kroatischen Faschisten, der Bau von Eisenbahnen, ein paar Screenshots hie und da. Ein richtiges Bild ergibt sich nicht.

Heute lese ich Friedrich Katzers eher nebensächliche geologische Karten und Reiseberichte durch Bosnien als imperiale Dokumente, sie waren Gerüste österreich-ungarischer Fremdverwaltung. Doch scheint mir die Suche nach historischer Übereinstimmung mit der Umgebung, in der ich im letzten Sommer war, vergebens. Wenngleich unsere Vorhaben, meine und die von Friedrich Katzer, ganz andere sind oder waren – ihn beschäftigte die geologische Erkundung nach Rohstoffen, mich die Frage historischer Aufklärung –, bleibt die Frage, ob Friedrich Katzer und ich uns nicht doch in der Wahl unserer Werkzeuge gleichen.

Auf den Seiten seines Buches abgebildet sind Gebirgszüge, Kreide-Karstlandschaften, Nummulitenkalke, „tektonische Verhältnisse“, wie er sie nennt, Eisenwerke, Triasgebirge. Sie markieren meinen ganz eigenen Ausgangspunkt. In den Gängen der erdwissenschaftlichen Sammlung in Zürich liegen mineralische Exponate in Vitrinen. Ich bin umgeben von geologischen Produkten. Zu den Karten und Steinen mischt sich Unbehagen, mir ist, als seien nicht nur Steine ausgestellt, sondern mit diesen auch die Schaukästen. Ich frage mich dabei, aus welchen Gräben, Steinschächten und industriellen Großprojekten die Steine entnommen wurden. Etwa der Lapislazuli aus Afghanistan, das Eisenerz aus Brasilien oder der Aquamarin aus Pakistan.

Aus einem Regal ziehe ich ein weiteres Buch von Friedrich Katzer zu Bosnien, auffällig sind Worte wie „paläozoische Landschaft“ oder „jüngere Auflagerungen“, wie sie mir zufallen, als hätte ich sie gesucht.

Fast so, als lerne man, Landschaften zu lesen.

Der Boden ist dem Menschen ein Archiv geworden

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Kinder neben den Särgen von 16 neu identifizierten bosnischen Völkermordopfern während einer Beerdigungszeremonie in Prijedor in Bosnien und Herzegowina im Jahr 2022

Wir hatten uns verfahren, waren zu stehen gekommen kurz nach der bosnischen Grenze, in der die Aufschriften auf den Tafeln nicht mehr in lateinischer, sondern in kyrillischer Schrift ausgeschrieben waren. Einst als Flickwerk aus dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn hervorgegangen und als solches später wieder zerfallen, zeigte mir die Gegend nicht mehr als ihre grünen Felder, ihre Vorgärten, unmarkiert und nicht gezeichnet von den dort jüngst begangenen Verbrechen. Während des Bosnienkrieges wurden Gefangene aus den Internierungslagern Omarska, Trnopolje, Keraterm und Manjača im Sommer und Herbst 1992 hingerichtet und ihre Leichen in Tomašica und Jakarina Kosa sowie an weiteren Orten verscharrt. Später wurde der Betrieb der Mine in Omarska wieder aufgenommen, unter Verwendung der gleichen Strukturen und Geräte. So werden heute Bagger gefahren, die vor rund 30 Jahren noch Leichen in Gruben versenkt hatten.

Bevor Friedrich Katzer seinen Dienst im Bergrat in Bosnien (damals Verwaltungsgebiet Österreich-Ungarns) antrat, habe er das Steinvorkommen im Amazonas untersucht, sich dort über die vielen Mücken beklagt und sich deswegen nach einer anderen Stelle umgesehen.  

Irrfahrten, Umwege, auch hier.  

In Zürich bitte ich einen Freund, einen forensischen Report der Universität Sarajevo über die Ausgrabungen in Tomašica durchzusehen, denn als ich die ersten Seiten durchscrolle, sehe ich die Einschusslöcher in den Schädeln, sowie den abgeschnittenen Zopf einer Frau. Ich ahne, dass auf den folgenden 100 Seiten weitaus Schlimmeres zu sehen sein wird.

10 nach 8 Bosnien Sonnenuntergang
Private Fotoaufnahme der Autorin von ihrer Reise nach Bosnien

Ich würde recht behalten. Der Boden ist dem Menschen ein Archiv, Erinnerung und Zeugin geworden und weist über einzelne Gebirgskämme und tektonische Verhältnisse hinaus. Dem hohen Tongehalt des Bodens in Tomašica ist es zu verdanken, dass die Leichname derart gut präserviert wurden. Nach der Ausgrabung im Jahr 2013 wurden sie in Salz eingelegt, damit sie nicht weiter zerfallen. Die Beisetzungen der exhumierten und identifizierten Leichen finden nunmehr jährlich statt. Die aus der Region Vertriebenen leben heute mehrheitlich im Ausland, sie finanzieren den Wiederaufbau der Dörfer und der umliegenden Umgebung mit. Eines der wenigen Denkmale, die der Opfer des Genozids gedenken, sieht man bei der Einfahrt ins Dorf Kozarac. Über viele Tafeln sind die Namen aufgelistet, man gewöhnt sich daran.

In seinem Geologischen Führer lobt Katzer nicht nur die geologischen Funde, sondern auch die landschaftlichen Schönheiten der Gegend. Dies sei der österreichisch-ungarischen Verwaltung zu verdanken.

Damit meinte er die Eisenbahnen und neuen Fernstraßen, die gebaut wurden, um die Erzvorkommen und das Holz aus der Peripherie der Habsburger Monarchie in ihre Zentren zu spülen. Exakt jene Straßen also, die wir heute entlangfuhren. Allen voran waren es geologische Experten und Förster, die mit ihren Excursionen den Intervention der Machthaber den Weg bereiteten. 

Wie sie plötzlich sichtbar werden, diese Minen und Landstriche, nicht nur als Orte der Umweltzerstörung, sondern auch als Schauplätze der Enteignung und des Vergessens.

Von oben zeigten sich die Spuren menschlicher Interventionen noch einmal deutlicher: Man sähe Flüsse, Straßen und Eisenbahnen, einen Landstrich reich an Vermissten, Limonit und Karbon.