Erhard Schütz‘ Sachbücher im Juni: Samuel Beckett, Proust, Hiroshima, Maoismus

Wenn man selbst ein Großer werden will, wie geht man mit einem Großen um, den man nicht umgehen kann? In Samuel Becketts glänzendem Essay Proust von 1931 über den großen Schriftsteller tut es Beckett, indem er die französischen (und ein paar englische) Konkurrenten Prousts auf Erden mit spöttischen Bemerkungen wegbeißt und Proust selbst in einen literarischen Überhimmel erhebt. Dabei geht er natürlich auf Zeit und Gewohnheit ein, auf die unwillkürlichen Erinnerungen – zu denen er, jenseits des legendären Mürbegebäcks, das selbst Proust-Nichtkenner in den Tee ihrer Phrasen tunken, eine nützliche Liste anlegt und mit dieser durchaus feine Ausdeutungen von Schlüsselszenen liefert.

In Erinnerung bleiben vor allem starke aphoristische Zuspitzungen à la dass „unser Leben eine Abfolge von Paradiesen ist, die nacheinander versagt werden“. Oder: „Freundschaft ist ein sozialer Behelf wie Polsterbezüge oder das Aufstellen von Mülleimern.“ Als Appetizer: „In Prousts Persönlichkeit und in Prousts Welt gibt es kein Gut und Böse. (Vielleicht mit Ausnahme der Passagen, die den Krieg betreffen, wenn er vorübergehend aufhört, Künstler zu sein, und beginnt, mit den Plebs, dem Mob, dem Pöbel, der Kanaille zu heulen.)“

Am 7. August 1945 meldete der japanische Rundfunk: „Hiroshima hat beträchtliche Schäden durch einen Luftangriff einiger feindlicher Flugzeuge vom Typ B-29 erlitten. Es wird angenommen, dass eine neue Bombenart Verwendung fand. Die Einzelheiten werden untersucht.“ Am 6. August 1945 war um 8.15 Uhr dort die erste Atombombe explodiert. Von dem, was da über sie kam, hatten die Bewohner keinerlei Vorstellungen und Maßstäbe. So überkam viele ein geradezu urzeitliches Grauen, ohne irgend zu wissen, in was sie geraten waren. Der US-amerikanischer Reporter John Hersey hat unmittelbar danach sechs Überlebende, darunter eine junge Beamtin, ein Arzt und ein deutscher Jesuitenpater, befragt und die „Einzelheiten untersucht“. Seine Reportage startete am 31. August 1946 im New Yorker, erregte ungeheures Aufsehen, wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, erschien schon 1947 in deutscher Übersetzung und dann in vielen Auflagen. Längere Zeit vergriffen, wurde Hiroshima nun wieder aufgelegt, ergänzt um ein langes Kapitel, das auf die Protagonisten und Entwicklungen vierzig Jahre danach eingeht.

Nüchtern, manchmal etwas spröde übersetzt, protokolliert das Buch ein kurzes Vorher und ein quälendes, absurdes Nachher. Hersey schildet groteske, rührende, grausige Episoden einer Ausgeliefertheit, die allmählich durch Versuche wissenschaftlicher Durchdringung überlagert wurde, während man sich um die Opfer wenig kümmerte. Bald nach der Kapitulation adaptierte man die Kultur der Sieger, zum Beispiel Baseball. Die Mannschaft aus Hiroshima trug – im falschen Plural – den amerikanischen Titel „The Carps“, die Karpfen. Auch wenn man inzwischen soundsoviele Dokumentationen gelesen und gesehen haben mag, John Herseys Buch ist in seiner die Menschen würdigenden Darstellung der Tagtäglichkeit des Ungeheuerlichen unersetzlich.

Am Anfang stand ein Buch. 1936 erschien Edgar Snows Red Star over China, es wurde bald in alle Welt übersetzt und die chinesische Übersetzung trug immens zur Popularisierung Maos dort bei. Mao hatte Snow zuvorkommend behandelt, der wiederum hatte ihn und seine Bewegung höchst idealisiert, durchaus nicht im Einklang mit dem, was man schon damals kaum übersehen konnte. Was dann als Maoismus weltweit nachgebetet wurde, war in sich nicht sonderlich konsistent, eher ein Amalgam aus kommunistischer Propaganda, eingängigen ländlichen Spruchweisheiten und machtbewusstem Pragmatismus, im Kern Hass auf die Städte, auf die alten Eliten und auf die Intellektuellen. Nicht selten von Renegaten des Intellektualismus.

Maoismus, zitiert die Sinologin Julia Lovell in ihrem voluminösen Werk den Franzosen Christophe Bourseiller, habe eigentlich nie existiert. Eben das erkläre seinen Erfolg. Aus der Vagheit ließ sich jeweils auf die unterschiedlichsten nationalen Lagen ein Reim machen. Oft ununterscheidbar, ob Programm oder Fassade. Meist mit äußerst brutalen, katastrophalen Folgen – so in Kambodscha, Indien, Malaysia, Nepal, Peru, Vietnam, Zimbabwe, auf den Philippinen.

Den sogenannten Westen nicht zu vergessen – ob die Black Panthers in den USA oder die intellektuellen Sekten in Westeuropa. Hier kam noch etwas hinzu – Maoismus als Ferment der Popkultur. Andy Warhol, Pekingopern, knallig kindliche Kitschplakate. Noch 2011 erschien ein Cultural Revolution Cook Book, die versammelten Armutsrezepte darin opulent mit Propagandabildern illustriert. Julia Lovells preisgekröntes Buch Maoismus schildert ebenso detailliert den Aufstieg Maos in China wie die Maoismen in aller Welt, woraus jeweils für sich gründlich informierende politische Ländergeschichten hervorgehen. Einzig zur am Ende nur gestreiften Frage, wie es sich mit dem Neo-Maoismus im jetzigen China verhält, hätte man von diesem Standardwerk gern mehr erfahren.

Proust Samuel Beckett Jochen Schimmang (Übers.), Suhrkamp 2023, 144 S., 20 €

Hiroshima John Hersey Justinian Frisch, Alexander Pechmann (Übers.) Jung und Jung 2023, 224 S., 23€

Maoismus. Eine Weltgeschichte Julia Lovell Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz (Übers.), Suhrkamp 2023, 768 S., 42 €