Eine Branche ringt um Zuversicht

Die nächsten Ausbauziele für die Offshore-Windkraft seien trotz schwieriger Umstände erreichbar, teilten die Branchenverbände bei ihrer Jahresbilanz 2024 mit. Derzeit kommen rund sechs Prozent des deutschen Stroms vom Meer, bis 2045 könnten es bis zu 25 Prozent sein. Doch die Unwägbarkeiten nehmen zu.
Die in den deutschen Seegebieten installierte Windkraft-Leistung wächst weiter. Im vergangenen Jahr gingen 78 neu gebaute Offshore-Windturbinen ans Netz. Insgesamt stehen inzwischen 1639 Anlagen im deutschen Teil von Nord- und Ostsee für eine Gesamtleistung von 9,2 Gigawatt (9200 Megawatt). Sie lieferten 2024 etwa 25,7 Terawattstunden, das waren etwa sechs Prozent der deutschen Stromerzeugung. Das teilten die Branchenverbände am Dienstag mit.
Aus Sicht der Verbände sind die Ausbauziele für die kommenden zehn Jahre trotz schwieriger Umstände nach wie vor erreichbar. Das von der inzwischen zerbrochenen Ampelkoalition im Bund für 2030 beschlossene Ziel von 30 Gigawatt installierter Leistung könne bis 2031 erreicht werden. Bis zum Jahr 2035 könnten sogar 50 Gigawatt installiert sein, anstelle der bislang geplanten 40 Gigawatt, sagte Merle Heyken, Projektmanagerin des Service- und Beratungsunternehmens Deutsche WindGuard. Das bislang noch gültige Fernziel sind 70 Gigawatt installierte Leistung bis zum Jahr 2045. Damit ließen sich nach Einschätzung der Branche 20 bis 25 Prozent des deutschen Strombedarfs decken.
Rund 15 Jahre nach dem Start des ersten deutschen Offshore-Windparks Alpha Ventus nordwestlich von Borkum wird der Betrieb der Meereskraftwerke heutzutage in der Regel nicht mehr subventioniert. Im Gegenteil zahlen die Unternehmen bei Auktionen für die Flächen Summen von Hunderten Millionen, teils Milliarden Euro an den Bund – Kosten, die sie später allerdings auf die Strompreise umlegen. Gleichwohl ist es keiner anderen Teilbranche der erneuerbaren Energien in Deutschland gelungen, so schnell aus dem Subventionsregime der gesetzlich festgelegten Einspeisevergütungen herauszukommen.
Die Offshore-Windkraft-Branche steht allerdings vor wachsenden Unwägbarkeiten. Völlig unklar ist, welchen Kurs beim Ausbau der Offshore-Windkraft eine künftige Bundesregierung einschlagen wird – eine von der Union geführte Regierung dürfte hierbei zurückhaltender agieren als die Ampelkoalition es getan hat. Auf europäischer Ebene wiederum wird in der neuen EU-Kommission auch die Klima- und Energiepolitik derzeit neu justiert. Ihren „European Green Deal“, den sie im Jahr 2019 ausgerufen hatte, muss Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) in ihrer zweiten Amtszeit seit Ende 2024 an vielen Stellen überprüfen und teils revidieren. Konservative und Rechtspopulisten hatten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament deutlich hinzugewonnen.
„Aktuell sehen wir wieder viele bedenkliche Entwicklungen“, sagte Andreas Mummert, Leiter Politik bei der Stiftung Offshore-Windenergie. Bei den Diskussionen auf europäischer Ebene gebe es aber weiterhin „viel positive Dynamik“.
„Wir brauchen langfristige Planungssicherheit in Deutschland und in Europa. Einen regulatorischen Flickenteppich in Europa müssen wir vermeiden“, sagte Stefan Thimm, Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie Offshore (BWO). Der gesamte nordeuropäische Offshore-Windkraft-Markt wird mit einem Ausbaupotenzial von derzeit rund 300 Gigawatt taxiert. Dahinter steht auch die Überlegung, die Offshore-Windparks der Nord- und Ostsee-Anrainerstaaten miteinander zu vernetzen, um eine höhere Gesamt-Stromerzeugung und mehr Stabilität bei der Versorgung zu erreichen.
Unbedingt vermeiden will die deutsche Offshore-Windkraft-Branche einen neuerlichen „Fadenriss“. Die damalige Bundesregierung aus Union und SPD hatte den Ausbau der Offshore-Windkraft am Ende des vergangenen Jahrzehnts verlangsamt, um die Kosten zu dämpfen und um den Bau von Windparks und Netzen besser miteinander zu synchronisieren. Zu Beginn dieses Jahrzehnts kam der Ausbau von Offshore-Windparks in den deutschen Seegebieten deshalb weitgehend zum Erliegen. Viele Unternehmen der in Deutschland seinerzeit bereits stark ausdifferenzierten Offshore-Windkraft-Industrie wanderten wieder ab oder gingen unter, vor allem auch direkt an den Küsten.
Die Folgen dessen spürt die Branche bis heute. Keine einzige deutsche Werft baut derzeit mehr komplette Konverterstationen für die Anbindung küstenferner Windparks an das Landnetz. Auch Spezialschiffe für die Montage, die Wartung oder den Crewetransfer haben deutsche Schiffbauunternehmen nicht im Programm. Die verfügbaren Schwerlastflächen und Kaianlagen reichen für das ambitionierte deutsche Ausbauprogramm nach wie vor nicht aus, trotz einer deutlichen Erweiterung, die derzeit in Cuxhaven realisiert wird. „Für die Montage, Logistik und Wartung von Offshore-Windenergieanlagen braucht es ausreichend Schwerlastflächen, die auch für die Windenergie an Land mitgenutzt werden. Hier geht es um eine gesamtstaatliche Aufgabe“, sagte Thimm.
Konkrete Probleme muss die Branche gemeinsam mit Politik und Verwaltungen bei den Ausschreibungsverfahren für neue Offshore-Windkraft-Flächen lösen. Zuständig dafür ist das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg. Dessen neuer Flächenentwicklungsplan biete bei einem Volumen von 20 Gigawatt zur Mitte der 2030er-Jahre „im Vergleich zu einer früheren Version weniger Klarheit“, teilten die Verbände mit. „Diese Klarheit muss die neue Regierung umgehend schaffen. Flächenpotenziale, auch in Kooperation mit Nachbarländern, sollten effizient ausgeschöpft werden.“
Insgesamt steigen die technologischen und logistischen Anforderungen beim Bau neuer Offshore-Windparks im deutschen Teil der Nordsee auch dadurch, dass die Meereskraftwerke immer weiter von der Küste entfernt errichtet werden. Durchschnittlich 59 Kilometer vor der Küste stehen die Offshore-Windparks, die 2024 in Betrieb genommen wurden. Bei den Projekten im Bau beträgt die durchschnittliche Entfernung zur Küste 91 Kilometer. Für die besonders küstenfernen Parks wird künftig unter anderem ein anderes Rettungssystem benötigt als die heutzutage praktizierte Luftrettung per Helikopter.
Die durchschnittliche Leistung der Offshore-Windturbinen steigt unterdessen weiter. Begonnen hatte die Branche in den Nullerjahren im deutschen Teil der Nordsee mit der Installation von Anlage mit je 3,6 bis fünf Megawatt Leistung. In der Ostsee lag die installierte Leistung je Anlage anfangs zwischen 2,3 und 3,5 Megawatt. Im vergangenen Jahr hatten alle in den deutschen Seegebieten installierten Offshore-Turbinen eine durchschnittliche Leistung von 10,16 Megawatt, eine Nabenhöhe von 113 Metern und einen Rotordurchmesser von 182 Metern.
Bislang ist kein Ende der Größenentwicklung in Sicht. In diesem Jahr sollen im deutschen Teil der Nordsee die ersten Anlagen mit je 15 Megawatt Leistung installiert werden. Auf den deutschen Markt drängt zudem auch der chinesische Hersteller Ming Yang mit der derzeit weltweit stärksten Offshore-Windturbine, die 18,5 Megawatt leistet.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit ihren Anfängen in Deutschland vor 25 Jahren über die Offshore-Windkraft-Branche.
Source: welt.de