„Ein Volksbürger“ ist Aufklärungstheater im besten Sinne
Was könnte passieren, wenn eine rechtsextremistische Partei an die Macht kommt? Das Theaterstück „Ein Volksbürger“ im Haus der Bundespressekonferenz spielt dieses Szenario einmal durch
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Eigentlich gilt jede spürbar pädagogische Absicht im Theater als verpönt. Trotzdem scheint eine Funktion des Theaters zu trenden, nämlich die der Aufklärung. Besonders deutlich wurde das bei der sensationell erfolgreichen Bühnenfassung der Correctiv-Recherche. Nur eine Woche nach Veröffentlichung kam das Ganze als szenische Lesung auf die Bühne des Berliner Ensembles. Die als „Theater meets Journalismus“ angekündigte Veranstaltung wurde live gestreamt, lockte mehr als 100.000 Zuschauer:innen vor ihr digitales Endgerät und wurde mit tosendem Applaus bedacht.
Ein ähnliches mediales Großereignis war jetzt die Inszenierung Ein Volksbürger der freien Gruppe Nico and the Navigators. Einen Tag nachdem der AfD-Alterspräsident des Thüringer Landtags die demokratischen Prinzipien außer Gefecht gesetzt hatte, spielte Fabian Hinrichs hier einen populistischen Ministerpräsidenten, der durch seine mit absoluter Mehrheit gewählte Demokratische Allianz in einem nicht näher benannten „Freistaat“ an die Macht kommt. Das Stück wurde im Haus der Bundespressekonferenz aufgeführt; es war das erste Mal, dass ein künstlerisches Projekt Zugang zu diesen Räumlichkeiten bekam.
Ein Volksbürger versucht, mit maximal authentischer Simulation der Realität ein Szenario durchzuspielen, das sich mit der Frage auseinandersetzte, was passieren könnte, wenn eine Partei an die Macht kommt, die den Rechtsstaat verachtet. Welche wehrhaften Mittel besitzt die Verfassung überhaupt, den demokratischen Staat in einem solchen Fall zu schützen? Auch dieses Projekt wurde über mehrere Kanäle, unter anderem auf Arte, live gestreamt: wahrscheinlich, weil man berechtigterweise annahm, das sollte möglichst viele Menschen im Land interessieren.
Und tatsächlich ist der Abend ein gelungenes Beispiel von Aufklärungstheater im besten Sinne. Nicht nur, weil Fabian Hinrichs nahezu perfekt einen Ministerpräsidenten kopiert, der seinen Vernichtungswillen gekonnt hinter einer zivilen Fassade bewahrt. (Denken Sie sich eine männliche Alice Weidel.) Auch nicht, weil der Abend manchmal ziemlich klischeehaft die Welt der Politik und des Journalismus abzubilden versucht. Und schon gar nicht, weil man das Thema offenbar „leicht“ gestalten wollte und der Meinung war, über so ein Bedrohungsszenario müsse auch mal gelacht werden dürfen. Dafür habe ich in den dargestellten Pressekonferenzen, in denen die Handlungsoptionen der Bundesregierung durchgespielt wurden, einiges über die Verfassung gelernt.
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich blättere eher selten in unserer Verfassung herum. Ich lernte also in diesem Stück, dass der Verfassungsrechtler Maximilian Steinbeis geschrieben hat, dass es eine festgeschriebene „Landestreue“ gibt, die die Länder verpflichtet, die verfassungsmäßigen Gesetze des Bundes einzuhalten und umzusetzen. Ich hörte auch zum ersten Mal vom „Bundeszwang“, der in der Geschichte der BRD noch nie umgesetzt wurde und der eben im Extremfall greift, wenn ein Bundesland vorsätzlich verfassungswidrig handelt. Dann marschiert, wie hier in diesem Fall, die Bundespolizei in den jeweiligen Freistaat ein und unterbindet die Machtergreifung der Ämter und Behörden.
Ein Volksbürger sendete also durchaus eine beruhigende Botschaft: keine Angst, es gibt Mittel und Wege, die der Rechtsstaat besitzt, um sich zu schützen. Doch sollte man, im Sinne der Vorbereitung auf das, was kommt, beim nächsten Mal ruhig ein realistischeres Aufklärungsszenario entwerfen. Eine AfD hat, wie wir gesichert wissen, weitaus andere Pläne als hier die Demokratische Allianz, die vergisst, Aufenthaltsanträge zu bearbeiten. Wie wäre es also mit einem Aufklärungstheater des realistischen Horrors, das uns allen Handlungsanweisungen an die Hand gibt, wie wir demnächst zu verfahren haben?