Diskurs | Wenn Erinnerungskultur den Kampf gegen Antisemitismus gefährdet
Es gibt Sätze, die in Deutschland wie diskursive Sprengsätze wirken. Vor allem, wenn es um Israel und Palästina geht. Längst darf sich auf Antisemitismus-Vorwürfe gefasst machen, wer feststellt, „dass die Wurzeln des Problems, mit dem wir konfrontiert sind, viel älter sind als die Attacke des 7. Oktober“. Wer unbedingt will, wird dem Autor unterstellen, er relativiere den Terror der Hamas, wenn er auf die Existenz einer Vorgeschichte hinweist. Und was, wenn er davon spricht, dass die gefühlte Normalität der israelischen Gesellschaft begonnen habe, „die palästinensische Einheimischkeit schlichtweg zu vernichten“?
Die Zitate stammen aus dem gerade erschienenen Buch Keinheimisch des israelisch-deutschen Autors Tomer Dotan-Dreyfus. Wer es liest, wird hineingezogen in das Ringen um einen Standpunkt, der weder das Bekenntnis zu jüdischen Wurzeln ausschließt noch eine fundamentale Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in dem Land, das sich „Staat der Juden“ nennt. Und Dotan-Dreyfus weiß nach 15 Jahren in Deutschland, was einem blüht, der im Zusammenhang mit der palästinenserfeindlichen Politik dieses Staates das Wort „vernichten“ verwendet – auch wenn man, wie er, an der Verurteilung des Hamas-Terrors keinen Zweifel lässt: „Aufgeladenes Wort, ,vernichten‘, ich weiß. Mich interessiert aber die Wirklichkeit des palästinensischen Lebens mehr als die Wirklichkeit einer deutschen Empfindlichkeit, die von mir verlangt, andere Worte zu suchen.“
Das ist die sehr freundliche Umschreibung eines Diskursklimas, wie es nur die Selbstgewissheit einer von ihrer eigenen „Vergangenheitsbewältigung“ besoffenen Öffentlichkeit hervorbringen kann. Eines Klimas, in dem fast zwangsläufig geschieht, was auch Tomer Dotan-Dreyfus geschehen ist: 70 Jahre nach dem „Wiedergutmachungs“-Abkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland, berichtet er, „setzt ein nicht-jüdischer Chefredakteur eines Springer-Blattes, der Zehntausende Follower auf X hat, einen Post ab. Darin bezeichnet er … zwei Jüdinnen und mich als ,antisemitischen Elfenbeinturm‘.“
Der Antisemitismus-Vorwurf verliert seine Legitimation
Dotan-Dreyfus, 1987 in Israel geboren und aufgewachsen, hat dort fast ein Vierteljahrhundert seines Lebens verbracht (Wehrdienst inklusive) und lebt seit 2011 in Berlin. Will heißen: Ein eingefleischter Deutscher belehrt einen Bürger des „jüdischen Staates“ darüber, was Antisemitismus sei. Und nicht nur das: „Seit dem 7. Oktober 2023 … erhielt ich Absagen für Veranstaltungen und Veröffentlichungen, weil ich mich nicht hinter die menschenverachtende und mittlerweile sogar vernichtende Reaktion der israelischen Regierung stelle, weil ich nach Erklärungen – nicht nach Rechtfertigungen – für den schrecklichen Angriff an jenem Tag suche und weil ich darauf bestehe, Palästinenser als Menschen zu sehen.“
Tomer Dotan-Dreyfus teilt diese Erfahrung mit vielen anderen in Kunst, Kultur und Medien, ob jüdisch oder nicht. Er selbst hat es im Leitartikel für diese Zeitung gerade erst allgemeiner formuliert: „Der Umstand, dass Antisemitismus überall andockt, ermöglicht es, die Kritik an ihm, die berechtigt und notwendig ist, so auszudehnen, dass sie unliebsame politische Inhalte gleich mitdiskreditiert“.
Das ist für das gesellschaftliche Klima nicht zuletzt deshalb eine Katastrophe, weil der Antisemitismus-Vorwurf seine Legitimation zu verlieren droht, wenn er fast schon beliebig erhoben wird. Wenn sich die Anklage zu oft als gegenstandslos erweist, droht sie auch dort ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, wo tatsächlich Antisemitismus am Werk ist. Und die antisemitischen Kräfte – ob in Nazi-Kreisen, an gutbürgerlichen Stammtischen oder als trittbrettfahrende Minderheit bei den legitimen und notwendigen Protesten gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung – lachen sich ins Fäustchen, wenn zwischen ihnen und seriösen Stimmen nicht unterschieden wird.
Das Festhalten an Menschenrechten führt plötzlich ins Dilemma
Wer also wie Dotan-Dreyfus auf der Universalität der Menschenrechte beharrt, gleich ob sie von der Hamas verletzt werden oder von einer israelischen Regierung, findet sich in einem schmerzhaften Dilemma wieder: Ohne Zweifel ist es notwendig, der Verharmlosung oder gar Verherrlichung der terroristischen Hamas und ihrer antisemitischen Ideologie entgegenzutreten. Und ebenso berechtigt ist scharfe Kritik, wenn ein israelischer Dirigent ausgeladen wird, weil nicht klar sei, ob er sich ausreichend von „seiner“ Regierung distanziert. Das unterscheidet sich im Kern nicht vom „Canceln“ kritischer Positionen gegenüber Israels Regierung.
Aber genauso wenig ist es zu akzeptieren, wenn aus der Verurteilung dieser Positionen pauschale Antisemitismus-Vorwürfe abgeleitet oder sogar für eine repressive Politik missbraucht werden. Nichts anderes ist es, wenn politisch Verantwortliche wie Kulturstaatsminister Wolfram Weimer oder Bildungsministerin Karin Prien öffentliche Förderung an eine Art von vorgelagerter Gesinnungsprüfung knüpfen wollen oder wenn Behörden mit Repression gegen eine ganze Solidaritätsbewegung reagieren, indem sie zum Beispiel Demonstrationen verbieten.
Deutsche Wiedergutwerdung
Der Publizist Max Czollek spricht in diesem Zusammenhang von der „Instrumentalisierung von Juden*Jüdinnen für eine Wiedergutwerdung Deutschlands“ (so in dem Buch Alles auf Anfang, das er gerade zusammen mit der Journalistin Hadija Haruna-Oelker veröffentlicht hat). Und Haruna-Oelker ergänzt prägnant: „In der postnationalsozialistischen Gesellschaft möchte jede*r so weit wie möglich auf der Seite der Guten stehen. Darum ist diese Dynamik der Schuldabwehr auch nicht auf die CDU/CSU beschränkt, sondern begeistert große Teile dieser Gesellschaft.“
Damit ist jenes überhöhte Gefühl einer gelungenen Geschichtsaufarbeitung beschrieben, in dem eine einflussreiche Schicht identitätssuchender Deutscher sich ein gültiges Urteil zum Thema Antisemitismus anmaßt – selbst über die Jüdinnen und Juden, zu deren Schutz man sich angeblich berufen fühlt. Und vollends zur Gefahr für eine offene Gesellschaft wird das Ganze, wenn politische Instanzen wie der Bundestag oder der Kulturstaatsminister mit äußerst dehnbaren Antisemitismus-Definitionen arbeiten, um die Delegitimierung kritischer Positionen zu rechtfertigen.
Aber auch das ist noch nicht das ganze Bild. Haruna-Oelker, die ihre Familiengeschichte als „ghanaisch-afrodeutsch-deutsch“ beschreibt, und Czollek komplettieren es, indem sie auch den Zusammenhang ausleuchten zwischen der Antisemitismus-Debatte einerseits und deutscher Kolonialgeschichte andererseits (die sich im sehr gegenwärtigen Rassismus bis heute spiegelt). Treffend beklagen sie, „dass die Aufmerksamkeit und Empathie häufig entlang der Linien verteilt wird, die Rassismus und Antisemitismus ziehen“. Will heißen: Hier die Position, die die Vorgänge in Palästina mit Recht, aber nicht selten einseitig aus der Perspektive der Kolonialgeschichte betrachtet. Dort die Unterstellung, dass die Singularität der Shoah infrage stelle, wer auch der Kolonialgeschichte und den Lehren daraus ihren Platz in der Erinnerungskultur einräumen wolle.
Wolfram Weimer hält an einseitiger Erinnerungskultur fest
Es ist diese Polarisierung des Erinnerns, gegen die der Holocaustforscher Michael Rothberg das Konzept der „multidirektionalen Erinnerung“ in Stellung gebracht hat. Kurz und zugespitzt: Erinnern und Gedenken gewinnen ihren Erkenntniswert erst, wenn sie weder die Shoah noch die Verbrechen der Kolonialgeschichte ausblenden. Das heißt keineswegs, den singulären Charakter der Shoah infrage zu stellen, wie oft behauptet wird. Man könnte vielmehr sagen: Ein Kollektiv, das nicht umfassend erinnert, verhält sich wie ein traumatisierter Mensch, der Teile seiner Erinnerungen abspaltet, aber erst gesunden kann, wenn er sich ihnen wieder stellt.
Umfassendes Erinnern: Das ist das Gegenteil dessen, was der deutsche Staatsminister Weimer tut. Er hat gerade ein neues Gedenkstättenkonzept vorgelegt, das sich von einem Entwurf seiner Vorgängerin Claudia Roth an einer Stelle fundamental unterscheidet: Zur deutschen Kolonialgeschichte enthält es nichts.
Autorenlesung Hadija Haruna-Oelker und Tomer Dotan-Dreyfus diskutieren am Sonntag, 19. Oktober, um 11 Uhr auf der „Centre Stage“ der Frankfurter Buchmesse (Halle 4.1) über „Antisemitismus zwischen autoritärer Instrumentalisierung und gelebter Verantwortung“. Die Veranstaltung moderiert Freitag -Chefredakteurin Elsa Koester