Diese Frau will wissen, warum sie ihre Tochter ermordet hat
Wenn in einem Film der Täter von Anfang an feststeht, seine Tat sogar gesteht, und die Polizei auch Bescheid weiß, dann gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, das Publikum bei der Stange zu halten: Entweder man sät Zweifel an der für Wendepunkt geschulte Zuschauer eigentlich zu offensichtlichen Schuld des Angeklagten. Oder man verspricht, das Warum aufzudröseln: die Frage, wie es dazukommen konnte, dass X eines Tages Y tat.
Angesichts dieser zeitgenössischen Erwartungshaltung gleicht es fast einer Provokation, wenn nach der anfänglichen Bekanntgabe des Täters weder ein alternativer Verdächtiger ins Feld geführt noch ein ambitioniertes Motivationsgerüst aufgebaut wird, das den Zuschauer am Ende in seinen Kinosessel zurücksinken und sagen lässt: „Achso, in solch einem Fall, unter solcherlei Umständen hätte ich es auch getan.“
Der französische, mit dem César für das beste Erstlingswerk und in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Kinofilm „Saint Omer“ tritt mit dem impliziten und dann ganz bewusst gebrochenen Versprechen an, innerhalb von zwei Stunden zu erklären, warum eine Frau aus heiterem Himmel ihre 15 Monate alte Tochter am Strand aussetzt und von den Fluten wegspülen lässt. Die Frau streitet ihre Tat nicht ab, für schuldig hält sie sich dennoch nicht. „Deshalb bin ich hier“, sagt sie zu Beginn des Prozesses und meint: Um zu verstehen, warum sie es getan hat. Das weiß sie nämlich selbst nicht. Sie hofft, dass es ihr die Experten, die Anwälte und die Richterin erklären werden. Fast während des gesamten Films sehen wir Laurence Coly (großartig unterkühlt: Guslagie Malanda), eine senegalesische Philosophie-Doktorandin, nur in einer Einstellung: Stehend auf der Anklagebank, mit stoischem Gesichtsausdruck, den Blick zur Richterin gewandt.
Einzig zwei Szenen fallen aus dem Schema heraus: Am Anfang trägt sie ihr Kind ins Meer und am Ende bricht sie im Schoß ihrer Verteidigerin zusammen. Ansonsten sind die Einstellungen lang, die Kamera verweilt kleine Ewigkeiten auf Gesichtern und Körpern, dokumentiert das bloße Atmen der Personen. Einmal ist sie schon da, gerichtet auf die hölzerne Vertäfelung des Gerichtssaals, aber erst, als die Richterin Coly bittet, aufzustehen, streckt sich von unten ihr Kopf ins Bild.
Es sind solche Rahmungen und Brüche mit Rahmen, die „Saint Omer“ stellenweise ästhetisch interessant machen. Inhaltlich unterscheidet sich Alice Diops Regiearbeit insofern von einem konventionellen Gerichtsdrama, als es kaum Spannung, dafür aber bemerkenswerte philosophische Reflexionen anbietet. Die Professorin Rama (Kayije Kagame), die den Prozess von der Zuschauerbank aus mitverfolgt, hat „Schiffbrüchige Medea“ als Arbeitstitel für ihr nächstes Buch gewählt. Ihr Verleger teilt ihr mit, dass der Titel nicht so gut ankomme, weil viele nicht wüssten, wer Medea ist.
Wo das Drehbuch seine Referenz an dieser Stelle bewusst unerklärt lässt, wird es bei dem Sprachphilosophen Wittgenstein, über den Coly ihre Dissertation schreiben wollte, etwas konkreter. Aber auch da geistert sein berühmtestes Zitat („Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“) bloß als stille Leerstelle durch den Film.
Erst, wenn es um die Schimären geht, entwirft Colys Verteidigerin ein detailliertes Plädoyer: Alle Frauen seien Schimären, also Monster, weil ein noch ungeborenes Baby, selbst, wenn es nicht überlebt, Teile von sich an die Mutter abgibt und umgekehrt die Mutter Teile von sich an das Baby. Es wird suggeriert, dass wir alle – alle Frauen und alle Zuschauer – mitschuldig seien an der Tat Colys, und wiederum selbst zu einer ähnlichen Tat fähig. Aber das bleibt bloße Behauptung. Die Kargheit der Inszenierung erschwert das Mitfühlen und Mitbangen.
Wo Gegenwartsserien die Verantwortung einer Person oft mit diversen Kindheitstraumata weg psychologisieren und sich dabei in ihrer Krassheit gegenseitig überbieten, scheitert hier die Ursachenforschung krachend. Coly berichtet von einer behüteten, privilegierten Kindheit. Sie selbst kann sich ihre Tat nur mit „Hexerei“ erklären. Auch wenn sich ihre Verteidigerin noch so sehr bemüht, die Beziehung der Angeklagten zu einem dreißig Jahre älteren Franzosen, dem Vater des Kindes, als verhängnisvoll darzustellen, auch, wenn sie Coly als Migrantin charakterisiert, die von ihrem Umfeld bis in den Wahn hinein zum Verschwinden gebracht wurde, und selbst wenn versucht wird, ihre Tat vor dem Hintergrund ihrer fremden Kultur zu kontextualisieren – wirklich greifbar werden Colys Motive keinem der Anwesenden.
Eine wahre Geschichte
Dass der Film mehr dokumentarisch-soziologisch und weniger spannungsreich-dramatisch verfährt, verwundert angesichts Diops Herkunft vom Dokumentarfilm wenig. Auch hier hält sie sich treu an die wahre Vorlage: 2016 wurde die Philosophiestudentin Fabienne Kabou in Frankreich wegen Ermordung ihrer Tochter zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. Diop selbst saß im Gerichtssaal.
Auch der außergerichtliche Alltag der Professorin Rama, die als Alter Ego Diops fungiert, und im Gegensatz zu Coly den Sitzungssaal verlassen darf, lockert das statische Verhör nicht auf. Zwischen all den unbedeutenden (sie breitet eine Decke auf dem Hotelbett aus, geht essen, sieht fern) und kitschigen Details (sie streichelt sich über den Schwangerschaftsbauch, ruft weinend ihren Partner an) findet man nur selten Momente echten Charmes – etwa, wenn Colys Mutter neugierig und auch ein bisschen stolz alle Tageszeitungen kauft, weil jede einzelne über ihre Tochter berichtet. An solch frischen, Gewohnheiten verrückenden Schlaglichtern auf das Alltägliche mangelt es dem Drama größtenteils ebenso wie an existenziellen Absurditäten, wie sie Camus’ „Der Fremde“ in Anbetracht einer ähnlich unmotivierten Tat erzählt.
„Saint Omer“ weidet sich etwas zu sehr an seiner eigenen Inkohärenz, Lückenhaftigkeit und Zähigkeit – was sich lediglich mit der Idee rechtfertigen ließe, so seien Gerichtsprozesse und die menschliche Psyche eben: Eine Tat wie diese kann nicht erklärt werden, also müssen alle Versuche zwangsläufig im Sand verlaufen.
Am Ende wird Coly den starren Rahmen des Gerichtssaals genauso wenig verlassen haben wie den der Kamera oder der Kinoleinwand. So führt der Film, mal mehr und mal weniger absichtlich, die Beschränkungen der juristischen, psychoanalytischen und künstlerischen Mittel vor Augen, zum Menschen und seinen Abgründen vorzudringen.
Source: welt.de