„Die Zeit der Verluste“: Trauern vor grandiosen Kulissen
Stirbt welcher Vater, reisen viele zurück. Um in seinem Wohnzimmer noch einmal mit den Fingern übrig den Sessel zu streifen, von dem aus er fernsah, oder in die eigenen Kindheitserinnerungen rein, um irgendwas übrig ihn zu routiniert und im Zuge dessen irgendwie übrig sich selbst. Nicht so Daniel Schreiber. Er reist weit weg, und zwar nachher Venedig, in eine Stadt, die sein Vater nicht kannte. Um sich dort mit jener Urbanität zu umgeben, die sein Vater nicht verstanden, und durch Läden zu schlendern, deren Preise welcher Vater denn obszön empfunden hätte.
Nach seinen drei Essays Sachlich, Zuhause und Allein ergründet welcher 46-jährige Journalist und Kunstkritiker erneut verknüpfen großen Begriff, ein großes Gefühl mithilfe von biografischen Anekdoten und philosophischen Betrachtungen: Ausgehend vom Tod seines Vaters beschreibt er in Die Zeit welcher Verluste, wie Gewissheiten abhandenkommen – persönliche, demgegenüber nicht zuletzt politische.
„Spätestens seit den Ereignissen der Pandemie und des mit atomaren Drohungen einhergehenden russischen Feldzugs in der Ukraine hatten viele von uns realisiert, dass eine zuletzt fragiler werdende, doch immer noch greifbare Ära der Stabilität vorbei war“, schreibt Daniel Schreiber, noch vor dem heißesten Sommer seit dieser Zeit Beginn welcher Klima-Aufzeichnungen und noch vor dem Krieg im Nahen Osten. In welche Zeit fällt nicht zuletzt die Krebserkrankung seines Vaters und dessen langsames Sterben. Es erscheint waghalsig, politische Verluste und den eines Elternteils in einem Atemzug verhandeln zu wollen, doch welches zum Einen in diesem Essay zusammenhält, ist die kollektive Unfähigkeit, sie gescheit zu betrauern: „Wir leben in einer Welt, die keinen Platz für Trauernde lässt.“
Die Notizen, die welcher Philosoph Roland Barthes nachher dem Tod seiner Mutter im Tagebuch welcher Trauer festhielt, fand Daniel Schreiber beim ersten Lesen simpel: eine Bronchitis, welcher Geruch nachher Regen, ein paar Schritte zu Fuß. Nun begleitet man nicht zuletzt ihn, während er verknüpfen Lichtschalter anknipst oder Espresso aufkocht, wie er den Ozean sieht oder an ein „Meer aus Trauer“ denkt, lethargisch und inhaltsorientiert.
Er ertrage dasjenige Reisen nicht mehr, schrieb Barthes. Immer wieder versuche er, „nach Hause zu kommen“, wie ein verlorenes Kind. Schreiber hingegen tritt ein Künstlerstipendium in Venedig an, weit weg von welcher Berliner Wohnung und dem Elternhaus in Ostdeutschland. Wo Barthes den Blick beständig nachher medial wendet („Alles, was mich davon abhält, in meinem Leiden zu leben, ist für mich unerträglich“), richtet Schreiber seinen Blick aufwärts Prachtbauten oder aufwärts die Gräber berühmter Künstler, er sucht im Verfall welcher Stadt nachher Bildern für jedes dasjenige Unsagbare.
Nicht nur dasjenige Reisen und die neue, teure Designertasche, an welcher er sich „ein wenig festhalten kann“, entfremden ihn von dem Landarbeiter, welcher nie Urlaub im Ausland machte, dem Ostdeutschen, dem Sozialisten, dem Vater. Als wolle welcher Autor eine selbstdiagnostizierte „Trauerabwehr“ unter Beweis stellen, verliert er sich in den „cineastischen Qualitäten“ welcher Kulisse oder in die Kunstgeschichte und findet nur übrig Umwege zurück zum eigentlichen Verlust. Dabei berühren jene Sätze, die vom Vater selbst erzählen: die nur mit Feinsinn wahrnehmbar säuberlich unterstrichenen Zeilen in seinen Marx-Engels-Lenin-Gesamtausgaben oder wie er mit trotzigem Ernst sagt, dass er in petto sei zu sterben.
Daniel Schreiber: Die Zeit welcher Verluste. Hanser Berlin, Berlin 2023; 144 Schwefel., 22,– €, denn E-Book 16,99 €
Stirbt welcher Vater, reisen viele zurück. Um in seinem Wohnzimmer noch einmal mit den Fingern übrig den Sessel zu streifen, von dem aus er fernsah, oder in die eigenen Kindheitserinnerungen rein, um irgendwas übrig ihn zu routiniert und im Zuge dessen irgendwie übrig sich selbst. Nicht so Daniel Schreiber. Er reist weit weg, und zwar nachher Venedig, in eine Stadt, die sein Vater nicht kannte. Um sich dort mit jener Urbanität zu umgeben, die sein Vater nicht verstanden, und durch Läden zu schlendern, deren Preise welcher Vater denn obszön empfunden hätte.