Die Ozempic-Gesichter mit den großen Augen schauen vereinigen still schreiend an

Eine Spritze pro Woche, Netflix an, Rotwein rein, die Kilos verschwinden auch so – mit den neuen Abnehm-Medikamenten haben wir erfolgreich die Natur ausgetrickst. Das ist erstmal schön – aber nur so lange, bis man die eingefallenen Gesichter der Halb-Promis in Berlin-Mitte sieht.
Übers Abnehmen zu schreiben, ist immer schwer. Man tritt allen auf die Füße. Den zu Dünnen, den zu Dicken, denen dazwischen. Wie bei allen empfindlichen Themen muss man sich als Autorin auch überlegen, ob es klug ist, sich zu äußern. Die Aussicht, viele zu verärgern, sollte nie ein Antrieb für einen Text sein, aber noch weniger ein Grund, etwas nicht zu schreiben.
Es soll ums Zaubermittel Ozempic gehen. Ursprünglich war es ein Medikament für Diabetiker, bis jemand herausfand, dass sich damit vorzüglich Hunger und Appetit regulieren lassen. Wer abnehmen will, muss keinen fremden Schweiß im Fitnessstudio mehr riechen, komische Trennkostrezepte aus der Brigitte kochen oder Apfelessig trinken. Eine Spritze pro Woche, Netflix an, Rotwein rein, die Kilos verschwinden auch so.
Ozempic ist längst mehr als ein Medikament – es ist ein Milliardengeschäft und ein gesellschaftliches Phänomen. Der dänische Hersteller Novo Nordisk hat allein im Jahr 2023 einen Umsatz von über 40 Milliarden Euro erzielt, vor allem dank der enorm gestiegenen Nachfrage nach Ozempic und dem Schwesterpräparat Wegovy. Dazu kommen andere Anbieter wie Eli Lilly. Analysten prognostizieren dem Markt für Abnehm-Medikamente ein Volumen von mehr als 100 Milliarden Dollar bis 2030.
Supergeil, superpraktisch, die Natur erfolgreich ausgetrickst, möchte man sagen. Bis man die eingefallenen Gesichter im Bekanntenkreis, die Promis in den Zeitschriften und die Halb-Promis auf Instagram sieht. Sie erinnern an den letzten Städtetrip nach Oslo ins Munch-Museum. Die Ozempic-Gesichter mit den großen Augen schauen einen still schreiend an wie Edvard Munchs blutleeres Wesen.
Abnehmen ist bei den politisierten Mitmenschen natürlich auch so eine Sache. Bis vor Kurzem galt Sport – und damit das Abnehmen – in den postmateriellen linken Fjällräven-Kreisen als neoliberaler Selbstverwirkungsunfug. Es sind jene Kreise, in denen immerzu lustige Worte erfunden werden wie „normschön“. Ein naserümpfender Begriff dafür, dass das Gegenüber gut aussieht, sich dieses Privilegs doch aber bitteschön bewusst sein muss – und bei Themen rund ums Äußere besser die Klappe halten solle.
Doch dank Ozempic ist jetzt alles anders. Abnehmen ohne Sport, Schweiß und Tränen ist subversiv. Wer spritzt, verweigert sich dem neoliberalen Ideal von Leistung, Disziplin, Arschzusammenkneifen und Durchziehen. Ein Bruch mit der Leistungsgesellschaft.
Das ist ein Trugschluss. There ain’t no such thing as a free lunch, heißt es bei Robert A. Heinlein. Natürlich hat Heinlein (und später ein gewisser Milton Friedman, der diese kapitalistische Lebensweisheit erst wirklich populär machte), nicht an die ausgedünnten Berlin-Mitte-Promis gedacht, die plötzlich ohne Sport und mit weiterhin bedenklich viel Rotwein im Grill Royal in ihre alten Kinderjeans passen. Wer Ozempic spritzt, braucht schließlich gar keinen Lunch mehr.
Der Satz ist trotzdem wahr: Schlanksein auf Pump, oder vielmehr auf Spritz, ohne Schweiß, ohne innere Auseinandersetzung, also ohne Leistung, ist nicht umsonst. Das mag ein bisschen hart klingen. Ist es aber auch. Wer den Dauerfokus auf das Äußere legt, reduziert sich selbst auf seine Hülle, mit Ozempic jedoch maximal effizient.
Was zählt, ist das Selfie, der Anblick im Spiegel, die Zahl auf der Waage. Doch ohne das Erlebnis, das zu dem Ergebnis geführt hat. Letztlich findet eine Entfremdung vom eigenen Körper statt. Der Körper als Objekt, das Leben und Erleben wird zweitrangig, es wird weggespritzt.
Dabei sind wir Menschen unsere Körper. Dieses ulkige Ding mit hässlichen Knubbelknien, Schildkrötenhaut am Hals und hammerförmigen Zehen ist mehr als eine Hülle, die möglichst dünn oder für irgendwelche Filter und Social-Media-Kanäle optimiert sein muss. Wir nehmen durch den Körper die Welt wahr. Wie bekommen Bauchkribbeln, wenn wir uns verlieben, Herzrasen vor Aufregung und Herzstocken vor Angst. Wir platzen vor Stolz, wenn wir unsere physischen Grenzen verschieben und bei einem Halbmarathon über die Ziellinie humpeln.
Wir tanzen morgens im Bad vor Freude, wenn die Spice Girls „Viva Forever“ singen. Wir haben Knödel im Hals, wenn wir Fehler gemacht haben. Der Bauch krampft, wenn wir innere Konflikte aushalten. Gleichzeitig platzt der Bauch auch auf die gute Art, wenn wir im Italien-Urlaub nach Primi und Secondi noch ein Tiramisu gegessen haben. Hört auf Ozempic zu nehmen, bewegt euch, seid‘ gut zu euch. Das Leben ist zu kurz für kleine Teller.
Source: welt.de