„Die meisten halbnackt, aus klitschnass, aus vor Angst und Wärme zitternd“

Während und nach der napoleonischen Besatzung war der Küstenschutz an der Nordsee vernachlässigt worden. Daher weitete sich die Sturmflut vom 3./4. Februar 1825 zu einer Katastrophe aus, der Hunderte zum Opfer fielen. Die Konsequenzen wirken bis heute.
Schon am 1. Februar des Jahres 1825 hatte man an einigen Orten der Nordseeküste „eine ganz ungewöhnlich unruhige Bewegung im Wasser“ bemerkt. Da aber die Mondtide (die von der Mondanziehung verstärkte Flut) erst drei Tage später erwartet wurde, dachten sich die Leute nichts dabei. Schließlich hatten sie in dem ungewöhnlich milden Winter 1824/24 bereits einige Sturmfluten erlebt.
Auch dass das Wasser nicht so recht abfließen wollte, sorgte nicht für Beunruhigung. Das änderte sich am 3. Februar. Da blies der Wind auf einmal von Westen mit einer Stärke, „daß man mehrere Male einem Orkane gleiche Windstöße zu hören glaubte“, wie ein Chronist berichtete: „Gegen Abend drehete sich der Wind nach Westnordwest und abwechselndes, oft heftiges Schneegestöber erfüllte die Luft, während entfernte Blitze mit Donner bemerkt wurden.“
Bereits um 21 Uhr, Stunden vor dem Höhepunkt der Nachttide, war das Vorland der Deiche überschwemmt. Wer sich auf deren Kronen traute, wurde fortgeweht. Gegen 22 Uhr rollten die Wellen über Deiche. Es war der Beginn einer Sturmflut, die es an Stärke mit der zerstörerischen Flut aufnehmen konnte, die am 16./17. Februar 1962 Hamburg überschwemmte.
Als Hallig- oder Februarflut ist die Katastrophe von 1825 in die Annalen der Nordseeanrainer von den Niederlanden über Deutschland bis in den Norden Dänemarks eingegangen. 800 Menschen verloren damals ihr Leben, etwa 50.000 Nutztiere verendeten und rund 10.000 Häuser wurden unbewohnbar. Fruchtbares Ackerland wurde vom Salzwasser verseucht. Viele Deiche und Warften, auf denen die Höfe der Halligen standen, wurden zerstört. Hatte man 1769 noch mehr als 2000 Bewohner auf diesen kleinen Erhebungen im Wattenmeer gezählt, waren es 1835 nur noch 695 (heute sind es rund 300).
Obwohl die überlieferten Pegelstände der Flut viele Fragen offen lassen – mancherorts wurden sie einfach geschätzt, gehen viele Forscher davon aus, dass das Hochwasser niedriger auflief als bei anderen schweren Sturmfluten. Aber da der Orkan erst am Nachmittag des 4. Februar nachließ, konnte das Wasser bei Ebbe kaum abfließen, sondern erodierte weiterhin die Uferbefestigungen. Diese hatten bereits während der vorangegangenen Nacht schwere Schäden davongetragen, war es zu ersten Deichbrüchen gekommen. Bei seinem zweiten Ansturm führte das Meer viel Abraum mit, der die angeschlagenen Schutzvorrichtungen endgültig zerstörte.
Hinzu kam, dass es noch keine überregionale Organisation des Küstenschutzes gab und viele Deiche in einem beklagenswerten Zustand waren. Denn noch immer hatten die Küstenländer mit den Folgen der französischen Besatzung und der von Napoleon I. verordneten Kontinentalsperre zu kämpfen. Die Bauern, denen die Pflege einzelner Deichabschnitte oblag, hatten schon genug damit zu tun, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Daher konnte das Wasser ungehindert „durch die vielen Ratten- und Mäuselöcher“, so der Chronist, die Küstenbefestigungen unterspülen.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Februar waren viele Küstenbewohner vom Wasser überrascht worden. „Kein Rufen um Hülfe half, keine Zuflucht zum Nachbar war möglich“, beschrieb der Geograf Fridrich Arends in seinem „Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825“ die Katastrophe. Die Menschen versuchten, sich auf die Dächer ihrer Häuser zu retten, während ihre Habe und ihr Vieh vom Wasser weggerissen wurden. „Schwangere Frauen, Kinder Greise“, die „meisten halbnackt, alle durchnässt, alle vor Angst und Kälte zitternd“, konnten froh sein, wenn sie sich „mit Lumpen oder Pferdedecken bedecken“ konnten.
Doch das war erst der Anfang. Am Vormittag des 4. Februar kehrte die Nordsee mit noch größerer Wucht zurück. Da es einigermaßen hell geworden war, erkannten die Menschen immerhin die Gefahr. Viele fanden auf den Dachböden ihrer Häuser Zuflucht, die in Ständerbauweise errichtet worden waren. Die Mauern unten wurden weggespült, aber das Dachgerüst hielt Stand, sagt Boy-Peter Andresen, der auf der Hallig Langeneß ein Heimatmuseum leitet.
Die Halligflut von 1825 sei die höchste gewesen, die seit Einsetzen schriftlicher Aufzeichnungen jemals die Küsten der Nordsee erreichte, urteilte Fridrich Arends. Besonders schwer traf es die Inseln Pellworm und Föhr, die weithin überspült wurden. Auf Sylt, wo es bei Rantum zu Dünenabbrüchen kam, und auf Amrum retteten sich die Menschen in die Dünen. Auf den Halligen erwiesen sich die Warften der meisten Höfe als viel zu niedrig. Von 339 Häusern wurden 79 durch Wellenschlag völlig zerstört und 233 unbewohnbar. „Die Bewohner sind entweder tot oder dem Verhungern oder Erfrieren preisgegeben“, notierte ein Chronist.
In Hamburg wurden die tief gelegenen Stadtteile überflutet, in Ostfriesland zahlreiche Orte an den Küsten, Sielen und auf den Inseln. Baltrum „ist in zwei Teile zerfetzt worden“, sagt der Historiker Heiko Suhr, Leiter der Landschaftsbibliothek der Ostfriesische Landschaft in Aurich. Die Flutkatastrophe rührte an der Existenz vieler Menschen: „Die Ackergeräte waren weg, die Tiere waren tot, und die Ländereien waren landwirtschaftlich nicht mehr nutzbar“, sagt Suhr. Wie Statistiken zeigten, seien viele Familien damals nach Amerika ausgewandert.
Die in der Heimat zurückblieben, machten eine erstaunliche Erfahrung. Denn Nachrichten von der Katastrophe gelangten durch Zeitungen und Zeitschriften binnen kürzester Zeit in jeden Winkel des Deutschen Bundes. „Diese Trauerbotschaft einigte das zerrissene Volk. Man empfand das Unglück als ein nationales, das jeden einzelnen und alle gemeinsam betroffen hatte“, formulierte es der Regionalforscher Karl Lohmeyer: „So bildeten sich überall Ausschüsse, ging man mit Sammellisten von Haus zu Haus, veranstaltete man Gottesdienste, Vorträge, Verlosungen und Theateraufführungen.“
Mit weitreichenden Folgen: „Nicht nur aus den Randstaaten der Nordsee, Hannover, Oldenburg, Hamburg und Bremen, nein aus dem ganzen Binnenlande strömten die Gaben zusammen, ja aus fremden Ländern, aus England, Dänemark, Russland, den Niederlanden, Frankreich und Italien wurden Beiträge gesandt, sodaß ein wesentlicher Teil des auf 16 Millionen Reichstaler geschätzten Schadens ersetzt werden konnte.“ Zugleich erkannten die Behörden der norddeutschen Länder, dass der Küstenschutz nicht mehr der Verantwortung der anliegenden Bauern überlassen werden konnte, sondern einer zentralen und langfristigen Organisation bedurfte.
Schon in seiner Geschichts-Promotion beschäftigte sich Berthold Seewald mit Brückenschlägen zwischen antiker Welt und Neuzeit. Als WELT-Redakteur widmete er sich wiederholt den Flutkatastrophen an Nord- und Ostsee.
mit dpa
Source: welt.de