„Die besten KI-Entwickler sind Europäer“

Der französische Tech-Milliardär Xavier Niel sieht Europa im Konkurrenzkampf um KI zwar noch wettbewerbsfähig. Anstatt sich aber auf Gefahren zu versteifen, müsse man sich den Vorteilen zuwenden. Sonst drohe eine Schieflage mit gefährlichen Folgen – von der einflussreiche Akteure profitieren würden.

Der französische Tech-Unternehmer und Milliardär Xavier Niel ist auch dank seines Optimismus dort angekommen, wo er heute steht. Als Schüler entwickelte er einen erotischen Dienst für den in Frankreich erfundenen Videotext-Anbieter Minitel, einer Art Vorläufer des Internets. Sein Studium hat er abgebrochen. Heute ist er Chef von Iliad, einem französischen Telekommunikationsriesen.

Der 57-Jährige ist Mitbegründer der Programmierschule École 42, für die es kein Abitur braucht, investiert in zahlreiche Medien und Start-ups. Niel empfängt in einem Pariser Stadtpalast, dessen historischer Kern an Versailles erinnert, und rät, keine Angst vor Künstlicher Intelligenz zu haben.

WELT: Monsieur Niel, in Paris findet ein KI-Gipfel mit viel Trommelwirbel statt. Ist der Wettlauf nicht längst entschieden – und Europa nicht zu spät dran angesichts der Entwicklung in China und den USA?

Xavier Niel: Ganz im Gegenteil. Wir sind noch mitten im Rennen. Das ist erst der Anfang. China und die USA bilden heute zwei unversöhnliche Blöcke. Die amerikanischen KI-Modelle werden nicht in China benutzt werden – und umgekehrt. Frankreich und Europa können einen dritten Weg anbieten. Wir haben viele Trümpfe in der Hand, wir verfügen über talentierte Menschen, die die besten Hochschulen Europas besucht haben. In Frankreich verfügen wir außerdem über Atomenergie, die billig und weitgehend CO-arm hergestellt wird. Die starke Regulierung ist sicher eine Hürde, aber sie ist nicht unüberwindbar. Ich bin davon überzeugt, dass wir unglaubliches leisten können. Die besten KI-Entwickler sind Europäer, darunter viele Franzosen. Wir müssen allerdings optimistisch sein, um mitzuhalten. Deswegen hat mein Unternehmen Iliad drei Milliarden Euro investiert, davon 2,5 Milliarden in Rechenzentren. Wir müssen jetzt handeln, um Modelle anzubieten, die man in Asien und den USA benutzen kann.

WELT: Viele Menschen sind sehr skeptisch. Wie wollen Sie diese Leute davon überzeugen, dass die Vorteile der KI schwerer wiegen als ihre Risiken?

Niel: Indem ich ihnen erkläre, dass uns die KI niemals ersetzen wird. Wir werden nur durch diejenigen ersetzt, die imstande sind, sie zu benutzen. Deshalb ist es so wichtig, zu verstehen, wie sie funktioniert. KI ist keine Zauberei: Sie organisiert auf statistische Weise Daten, mit der wir sie gefüttert haben, um unsere Fragen zu beantworten. Sie kann nichts erfinden. Uns Menschen macht eine Kreativität aus, welche Maschinen einfach nicht haben und nie haben werden. Es ist lediglich ein neues Werkzeug, das uns unser Leben vereinfachen wird. In der Medizin und in der Wissenschaft sind die Fortschritte bereits immens. Aber sie wird nicht unser Gehirn ersetzen.

Lesen Sie auch

WELT: Gerade in kreativen Berufen fürchten viele, durch die KI ersetzt zu werden. Täuschen sich diese Leute?

Niel: Nochmal: Die menschliche Kreativität ist nicht zu ersetzen. Die KI kann eine wirklich gute Episode der TV-Serie „Colombo“ schreiben, aber sie kann sich nicht die ganze Serie ausdenken. Die KI ordnet Daten neu an, aber sie hat keine Einfälle. Sie ist beispielsweise unfähig, einen guten Witz zu machen. KI weiß nicht, was Liebe ist.

WELT: Brauchen wir einen europäischen Protektionismus im Hinblick auf KI?

Niel: Wir sollten nationale und europäische Produkte vorziehen, aber das geht nur, wenn sie wettbewerbsfähig sind. In Frankreich entwickeln Unternehmen wie Mistral Modelle an der Weltspitze. Entscheidend ist jetzt, dass wir KI-Unternehmer in Europa haben, damit wir nicht von Lösungen aus den USA oder China abhängig sind.

WELT: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Investitionen in Höhe von 109 Milliarden Euro angekündigt. Ist das die französische Antwort auf Donald Trumps Stargate-Plan, der die Förderung von KI-Infrastruktur mit mindestens 500 Milliarden Dollar vorsieht?

Niel: Geld allein ist nicht entscheidend, Talente sind wichtiger. Wir können besser sein mit weniger Geld. Ein Großteil der Investitionen fließt in die Nutzung von Modellen, nicht in deren Entwicklung. Für die Entwicklung von Modellen braucht es einige Dutzend oder Hundert Millionen Euro. Wir haben diese Talente in Europa. Viele Franzosen arbeiten heute bei dem US-amerikanischen Unternehmen Open AI und kommen gern nach Europa zurück, wenn wir ihnen die Freiheit lassen, Unternehmen und Labore zu gründen, um erfolgreiche Modelle zu entwickeln.

WELT: Die EU hat mit dem IA-Act bereits kräftig reguliert. Ist das in Ihren Augen schon zu viel?

Niel: Wichtig ist, zuerst zu erfinden und dann zu regulieren. In Europa haben wir reguliert, bevor wir Innovationen herausgebracht haben. Abgesehen davon gibt es keine Wahl. Wir müssen regulieren. Auch in den USA wird eines Tages wieder reguliert werden. In Europa muss die derzeitige Regulierung beibehalten werden, ohne sie noch weiter zu verschärfen.

Lesen Sie auch

WELT: Es ist eine neue Oligarchie der Tech-Unternehmer entstanden, die immer mächtiger wird. Müssen wir uns Sorgen um unsere Demokratien machen?

Niel: Es gibt die Welt der Politik und die Welt der Wirtschaftsunternehmer. Beide laufen sich manchmal über den Weg, aber ich habe Zweifel, dass die Politiker die Unternehmer verstehen und umgekehrt. Diese Überschneidungen können zu Spannungen führen, aber insgesamt sind die Tech-Unternehmen so mächtig geworden, dass sie inzwischen mit den Staaten konkurrieren. Entscheidend ist, wie diese Unternehmen ihre Macht nutzen werden.

WELT: Joe Biden hat von einer „neuen Oligarchie“ gesprochen. Die großen Tech-Unternehmer haben vor allen kommerzielle Interessen, die mitunter im Widerspruch zum Gemeinwohl stehen. Formulieren wir es schärfer: Sind unsere Demokratien in Gefahr?

Niel: Wenn die großen Unternehmen reicher und mächtiger sind als Staaten, ist es logisch, dass sie mehr Macht haben als die Politiker. Insofern stimme ich Ihrer Analyse zu. Aber solange es Demokratien gibt, wird es Wechsel an der Spitze von Regierungen geben. Dieser Pendelschlag ist unausweichlich: Wenn eine Kraft sich zu sehr in eine Richtung bewegt, wird das Pendel danach umso stärker in die andere Richtung ausschlagen. Das ist die natürliche Dynamik von Demokratien.

Lesen Sie auch

WELT: Sie haben mal gesagt: „Um Millionär zu werden, muss man Milliardär sein und dann in die Politik gehen“ …

Niel: Sie müssen sich nur anschauen, wie sich die Verkäufe von Tesla entwickelt haben. Nicht gut. Wenn man Politik und Business vermischt, dann wird es schnell kompliziert. Diese Vermengung zwingt die Menschen, sich zu positionieren. Das kann schnell heikel werden.

WELT: Sie haben selbst viel in Medienunternehmen investiert und halten Anteile. Warum?

Niel: Mir geht es um die Meinungsfreiheit. Ich bin Aktionär von Zeitungen mit sehr unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Sie müssen in meinen Augen ein Ort bleiben, wo die Journalisten unabhängig ihrer Arbeit nachgehen können. Es muss eine politische Linie geben, aber es sind die Journalisten, die sie bestimmen.

WELT: Welche Gefahr stellen die sozialen Netzwerke für die traditionellen Medien dar?

Niel: Die Arbeit der traditionellen Medien hat nichts mit Onlinediensten wie X oder Meta zu tun. Aber ich maße mir kein Urteil darüber an, wie es andere Firmen mit ihren Inhalten halten.

WELT: Was müsste Ihrer Ansicht nach das Ergebnis dieses Gipfels sein, was ist Ihre Botschaft?

Niel: Meine erste Botschaft ist die des Optimismus. Wenn wir KI lediglich als eine Gefahr sehen, ohne zu versuchen, sie zu verstehen und sie zu benutzen, dann kann sie ganz schnell zu einer Bedrohung werden. Aber wenn es uns gelingt, sie zu beherrschen, wird sie unser Leben vereinfachen, wird sie die Medizin revolutionieren, die Arbeitsweise unserer Krankenhäuser und der Gesellschaft insgesamt. Die zweite Botschaft geht an die Jugend. Ich habe einen Rat, den ich jungen Menschen geben will: Nutzt die Gelegenheit, stürzt Euch auf diese Technologien! Gründet Unternehmen oder Vereine. Hört auf, Euch auf der Politik auszuruhen. Innovation kommt nicht von ihr, sie kommt von uns. Es ist jetzt ganz entscheidend, dass wir kreative Energien fördern und jungen Leuten die Gelegenheit geben, Firmen zu gründen. Ansonsten wird Europa ein alter und überholter Kontinent.

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.

Source: welt.de