Deutschland erwartet erneut eine Migranten-Krise

Die Zahl von Migranten wächst, die sich über Balkanroute und Mittelmeer in Richtung EU aufmachen – viele von ihnen mit Ziel Deutschland. Bürgermeister schlagen Alarm. „Das Türkei-Abkommen erodiert“, warnt die Union und verlangt, dass Kanzler Scholz sich persönlich darum kümmert.

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Mit einiger Nervosität werden im Bund, den Ländern und in den Kommunen steigende Flüchtlingszahlen beobachtet. Rund eine Million Ukrainer haben in diesem Jahr in Deutschland Schutz gesucht. Seit Wochen registrieren Behörden auch wieder eine stärkere Bewegung auf der sogenannten Balkanroute und über das Mittelmeer.

Vor allem Afghanen und Syrer machen sich dort auf den Weg Richtung Deutschland. In den Aufnahmezentren gebe es derzeit ein „hohes Ankunftsgeschehen“, sagte Dirk Adams (Grüne), Thüringer Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, gegenüber WELT. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) drückte es im MDR noch drastischer aus: „Die Zahlen galoppieren regelrecht.“

Die Fluchtbewegung nach Europa bleibe ein „Dauerthema“, so Adams. Von der Bundesregierung erwartet der Thüringer, wieder eine „regelmäßige Berichterstattung“ aufzunehmen, um die Verteilung auf die Kommunen besser planen zu können.

Weil aus Berlin zuletzt keine Prognosen mehr über ein zu erwartendes Migrationsaufkommen veröffentlicht wurden, hatten die Länder selbst Schätzungen angestellt. Adams sieht den Bund aber auch in der Pflicht, wegen der jüngsten Entwicklung zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen.

Dass wieder mehr Menschen über die Balkanroute und das Mittelmeer versuchten, Europa zu erreichen, bereite ihr Sorgen, hatte auch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) der „Bild am Sonntag“ gesagt. In den Kommunen steigt die Angst vor Überforderung freilich schon länger.

Wichtig, Kapazitäten vorzuhalten
Völlig unkalkulierbar ist derzeit etwa die Entwicklung der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine, da sie vom Kriegsverlauf abhängt. Wenn Ukrainerinnen und Ukrainer vor Putins Soldateska fliehen müssen, seien sie „binnen 48 Stunden“ in Deutschland, sagte der Thüringer Migrationsminister Adams. Umso wichtiger sei es, Kapazitäten vorzuhalten.

Vor einer Überlastung wie im Winter 2015/16 warnen nun viele Kommunalpolitiker. Man steuere „auf einen echten Unterbringungsengpass im Winter zu“, warnt der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. Der Oberbürgermeister der ostdeutschen Grenzstadt Görlitz, Octavian Ursu (CDU), möchte „nicht wieder dahin kommen“, Sporthallen zu räumen und mit Flüchtlingen belegen zu müssen.

Wie problematisch die Lage ist, hatten vergangene Woche auch die Bürgermeister des Rheinisch-Bergischen Kreises in Nordrhein-Westfalen dargelegt. In einem offenen Brief klagten sie darüber, dass die Belastungsgrenzen im Kreis bereits erreicht oder in absehbarer Zeit erschöpft seien. Eine Unterbringung, die die Würde der Menschen achte, könne so auf Dauer nicht gesichert werden.

Das Schreiben der Bürgermeister ging zwar an Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), politisch adressiert war es aber auch an die Integrations- und Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne). Die betont gegenüber WELT, das Land stehe zu seiner humanitären Verantwortung.

„Wir bereiten uns derzeit darauf vor, dass gerade im späteren Herbst und Winter wieder mehr Menschen zu uns kommen könnten.“ Bei dieser Herausforderung müssten alle – also Bund, Länder und Kommunen – an einem Strang ziehen.

Der Anstieg der Flüchtlingszahlen beschäftigt also zum wiederholten Male die Innenpolitik in Deutschland. Der aktuelle Trend ist vor allem auf die Situation in der Türkei zurückzuführen: Denn unter den 3,5 Millionen Syrerinnen und Syrern, die in den vergangenen Jahren in die Türkei geflüchtet sind, wächst die Angst vor Abschiebung.

Die türkische Regierung forciert seit einiger Zeit „Rückführungen“ von Syrern, Berichten zufolge geschieht das teilweise mit vorgehaltener Maschinenpistole. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem deutlichen Anstieg von Abschiebungen, oft unter dem Einsatz von Gewalt.

„Offenkundig, dass das Türkei-Abkommen erodiert“
Hintergrund dieser Entwicklung ist die türkische Parlamentswahl im kommenden Jahr. Die Stimmung in der türkischen Bevölkerung gegenüber den geflüchteten Syrern sei längst gekippt, berichten Hilfsorganisationen. Nicht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, sondern die Flüchtlinge werden oft für die katastrophale wirtschaftliche Lage im Land verantwortlich gemacht.

Vor allem Politiker nationalistischer Parteien fordern, bis zum Jahr 2026 alle Syrer aus dem Land zu werfen. Das rabiate Vorgehen hat nun dazu geführt, dass sich viele Syrer in der Türkei verstärkt in Gruppen organisieren und in Richtung Deutschland auf den Weg machen.

Mit der Praxis verstößt die Türkei zudem gegen den 2016 mit der Europäischen Union (EU) geschlossenen EU-Türkei-Deal. Das Abkommen sieht unter anderem vor, dass die Türkei gegen unerlaubte Migration in die EU vorgeht. Im Gegenzug nimmt die EU syrische Flüchtlinge aus der Türkei auf und unterstützt das Land finanziell. Die Türkei soll Migranten einen „angemessenen Schutz“ und „Perspektiven“ garantieren.

Doch sei es mittlerweile „offenkundig, dass das Türkei-Abkommen erodiert“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete und Außenpolitiker Johann Wadephul gegenüber WELT. Deswegen sei es dringend nötig, dass die Bundesregierung „in Ankara vorstellig wird und den türkischen Präsidenten Erdogan an die Verpflichtung erinnert, die er eingegangen ist“.

Das Verhältnis der Türkei zu Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sei allerdings belastet, deswegen werde sich „Bundeskanzler Scholz persönlich kümmern müssen“. Für Kanzlerin Merkel sei ein enger Draht zu Erdogan immer wichtig gewesen. Dass es bei dem Thema in Berlin bisher „keine Aktivitäten“ gebe, könne sich Deutschland nicht leisten. „Wir sind das Zielland“, so Wadephul.

„Sitzen im gleichen Boot“
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lechte sagte WELT, dass der EU-Türkei-Deal weiterentwickelt werden müsse. „In Sachen Flüchtlingen sitzen Türkei und EU im gleichen Boot.“ Erdogan habe mit den 3,5 Millionen Flüchtlingen freilich stets ein probates Druckmittel gegenüber den Hauptstädten westlich des Bosporus in seinem politischen Instrumentenkasten, sagte Lechte.

Wichtig sei nun, das Flüchtlingskommissariat und das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen „auch in finanziell herausfordernden Zeiten auf keinen Fall dem Rotstift der Bundesregierung zum Opfer fallen“ zu lassen. Die Flüchtlingshilfe vor Ort sei um den Faktor 20 günstiger als für einen Flüchtling, der in Deutschland direkt versorgt wird.

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