„Der heutige Tag“ von Helga Schubert: Ein Mittel gegen die Verzweiflung

Was war das für ein besonderer Augenblick, als Helga Schubert im Sommer 2020 in ihrem riesigen Garten in Mecklenburg ihre Erzählung Vom Aufstehen las. Ein Milan kam darin vor, die Stille auf dem Land, der Rollstuhl ihres pflegebedürftigen Mannes, die hundertjährige Mutter und der kleine See in der Nähe mit dem Schwingmoor. Das war einfach und berührend, banal und tragisch, ein ganzes Leben eingefroren auf ein paar Seiten. Die Lesung wurde im Fernsehen und auf den Bildschirmen in Klagenfurt übertragen, wo Helga Schubert im Alter von 80 Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.
Dass ihr gleichnamiges Buch mit autobiografischen Kurztexten bald darauf ein Bestseller wurde, konnte man als ausgleichende Gerechtigkeit empfinden für eine DDR-Autorin, die bisher im Windschatten von Christa Wolf und Sarah Kirsch beinahe unsichtbar geblieben war. Man erinnerte sich vor allem an Helga Schuberts Auftritt als „Irene“ in Christa Wolfs Schlüsselroman Sommerstück, der von dem legendären Sommer in den 1970er-Jahren erzählt, den die Freundinnen Helga Schubert, Sarah Kirsch, Maxi Wander und Christa Wolf gemeinsam in Neu Meteln in Mecklenburg verbrachten. In dem Roman deutete Christa Wolf einen Konflikt zwischen Helga Schubert und ihrem Ehemann an. Helga Schubert, die damals als Psychologin arbeitete, wollte die DDR lieber heute als morgen verlassen, ihr Mann wollte bleiben, wo er war. Christa Wolf prophezeite: „Was zählte, war dieser Platz. Dieses Haus, das er sich befestigen würde, in dem er den Unbilden der Zeit, später den Unbilden des Alters standhalten würde.“
Und so ist es dann auch gekommen. Christa Wolfs Haus in Neu Meteln brannte 1983 nieder, Sarah Kirsch ging 1977 in den Westen, im selben Jahr starb Maxi Wander. Nur Helga Schubert und ihr Mann Johannes Helm, Autor und Professor für Klinische Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin, hielten in Neu Meteln stand, wie von Christa Wolf vorhergesagt. In ihrem neuen autobiografischen Buch Der heutige Tag, das jetzt ausführlicher, aber nicht weniger eindringlich von der Liebe zu ihrem schwer kranken 96-jährigen Mann und der Einsamkeit in Neu Meteln erzählt, kommt Helga Schubert auf die alten Konflikte vom Weggehen und vom Bleiben zurück. Ihr Mann sei es gewesen, der die Weite der mecklenburgischen Landschaft so geliebt habe, dass sich das Ehepaar schließlich ganz in die Landeinsamkeit zurückzog, obwohl Helga Schubert „die Weite bei uns bis zum Herbst 1989 bloß vorgetäuscht fand und glaubte wie unter einer erstickenden Glasglocke zu leben“. Nur wegen ihres Mannes sei sie jetzt noch immer in dem stillen Haus mit den Hunderten von Bildern an der Wand, die er hier gemalt habe. Doch gebe es auch Nächte, in denen sie sich unter der Bettdecke auf dem Smartphone Wohnungen in Berlin ansehe, in denen sie Videorundgänge durch diese Berliner Wohnungen mache und sie im Kopf schon mal für später einrichte, wenn das Leben vielleicht noch einmal neu beginnt.
Noch lebt sie aber in dem einsamen Haus mit dem riesigen Garten und erinnert sich an ein langes Leben, kümmert sich um Bettbeutel, Blasenkatheter und Windeln, richtet das Frühstück und die Tabletten und erzählt davon in den Nächten an ihrem Computer so bewegend und unsentimental, wie es zuvor auch schon Gabriele von Arnim in ihrem Buch Das Leben ist ein vorübergehender Zustand getan hat, worin die Berliner Autorin ebenfalls vom Leben und Sterben ihres schwer kranken Mannes berichtete. Doch während sich im Hause von Arnim eine beeindruckende Schar von Helfern, Vorlesern und Freunden am Pflegebett abwechselte, gibt es in Neu Meteln so gut wie keine Unterstützung für die 83-jährige Helga Schubert. Eine Studentin verlangt tausend Euro, um die Autorin, die gern in Berlin aus ihrem Buch vorlesen würde, für 24 Stunden zu vertreten.
„Ich muss ein Mittel gegen die Verzweiflung finden“, schreibt Helga Schubert. Manchmal könne sie „nur noch schluchzen“. Manchmal weine sie „für uns beide“. Manchmal erkenne ihr Mann sie gar nicht mehr und frage, wer denn die anderen beiden Frauen im Haus seien. Sie habe, schreibt sie, sich ein „inneres Verbot“ ausgesprochen, „über positive Folgen seines Todes nachzudenken“. Doch sind es berührende Lebensendgespräche, die das alte Paar in dem abgelegenen Haus führt. Welche Bronzeplatten kommen aufs Grab? Welcher Friedhof ist nicht zu weit für die Kinder? Einmal fragt ihr Mann: „Wann stirbt man hier?“ Sie antwortet: „Hier wird man 99.“ Darauf er: „Dann kann ich ja noch drei Jahre leben.“
Ohne große Worte wird dabei erfahrbar, wie die Zeit sich am Sterbebett aufstaut, wie die Zukunft in sich zusammenfällt, wie das Leben sich in die Augenblicke zurückzieht, wie alles andere verschwindet und nur noch das da ist, was ist. „Wir sind noch da“, schreibt Helga Schubert. Und setzt hinzu: „ein wunderbarer tröstlicher Satz“. Dann malt sie sich schon mal den Tod aus. Sie ist da beneidenswert zuversichtlich. „Du wirst mich nicht los, auch wenn ich tot bin“, schreibt sie. Auch ihr Mann wird danach noch immer da sein, „denn er ist ja in mir“.
Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe; dtv, München 2023; 272 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €