„Der Greif“: TKKG und die Steinmonsterbande
Kinder
sind heute schneller informiert, besser vernetzt und potenziell selbstständiger
als im Jahr 1989. Trotzdem dürfen Kinderfiguren in modernen Serien oft viel
länger Kind sein: Wer Minderjährige allein in die Wüste, in eine Parallelwelt oder
schlicht ins Abenteuer schickt, zeigt heute in der Regel viel empathischer,
dass junge, alleingelassene Figuren auch Struktur und Therapie brauchen. Deshalb
ist es toll, dass die Jugendserie Der Greif kein Märchenland feiert, in
dem sich ein Mackerkind endlich verwirklicht, heroische Freiheit erfährt,
Selbstwirksamkeit und Respekt. Sondern dass die Hauptfigur Mark sechs Folgen
lang vor allem im Alltag Therapie und Hilfe sucht, Solidarität und Mitwissende.
Mark
ist sechs, als sein Vater vom Schwarzen Turm erzählt, einer
archaischen Gegenwelt, die den Nachkommen der Familie seit Jahrhunderten offensteht.
Dann stirbt der Vater und erst zehn Jahre später müssen Mark und sein älterer
Bruder Thomas entscheiden: Welche Rollen können wir in einem bizarren Gruselmittelalter
spielen, wenn uns schon die Kleinstadt, der verdrängte Zorn über Kindheitstraumata
und die Geschäftsführung eines Plattenladens überfordern? Kann der Herrscher
des Schwarzen Turms, der Greif, in den Alltag eingreifen und uns gefährlich
werden?
Der
Greif spielt 1994, aber kurz Kurt Cobain zu
zeigen und zehnmal dieselben vier Indiehits des Jahres zu spielen, schafft in
der Serie von Sebastian Marka und Erol Yesilkaya noch keinen Retrocharme.
Auch erhebt Der Greif an keiner Stelle den Anspruch, tiefer zu fragen:
Wie hängen die Kindheiten und die jeweiligen Ängste einer Ära zusammen – was zum
Beispiel entscheidend war für den Horror von Stephen King, aber auch für die
Netflixserien Stranger Things und auch Dark. Der Greif
zeigt stattdessen in sechs schleppenden, naiven, doch oft treuherzig-lieben
Folgen, was es mit Kindern macht, wenn jede Steinfigur um sie herum lebendig
werden kann, sie verschleppen will und die Mutter der Kinder dazu nur sagt: „Du driftest ab. Das sind die Psychosen deines Vaters, und der hat sich
angezündet.“
Klingt
nach einer eher platten Mutterfigur? Aber hallo! Schon 1989 erschien Der
Greif als 600-seitiges Jugendbuch, runtergeschrieben vom Ehepaar Heike und
Wolfgang Hohlbein. Der Bestseller spielt in Berlin und zeigt Mark als 13-Jährigen,
der keine Gespräche mit der Mutter führt, sondern lieber mit einem väterlichen
Arzt, einem väterlichen Polizisten und väterlichen Bauern in der Parallelwelt.
Das war schon vor 34 Jahren muffig und patriarchal, erweitert um Kämpfe mit
Steinmonstern, einen Sklavenaufstand in einer Mine und Marks Aufstieg zum
Heerführer, der alles durchschauen und verarbeiten muss.
Wer
in der Serie solche Allmachtsfantasien sucht, Eskapismus und altkluge Kinder,
findet nur einen drei Jahre älteren, doch fünf Stufen unbeholfeneren Mark, der
zwar ebenso plakative Sätze sagt wie im Buch, aber dabei
weniger souverän auftritt. Nicht nur die Figur Mark scheint in der Serienversion
von Der Greif zu denken, dass er ganz schön trashig und fadenscheinig
klingt, auch ihr Darsteller Jeremias Meyer (Wir Kinder vom Bahnhof Zoo) scheint
kaum zu ertragen, mit was für einem hölzernen Drehbuch er arbeiten muss.
Ein
Tiefpunkt in Der Greif sind Dutzende Männer in Steinmonster-Make-up auf
Neunzigerjahreniveau, deren Steinmonsterdialoge mit Untertiteln noch
freudloser, zäher und leerer sind als vergleichbare, von Fans oft verhasste
Szenen zwischen Star-Trek-Klingonen. Auch die Idee, dass Sklaverei die
Weltordnung des Schwarzen Turms bestimmt, erscheint unausgegoren, da die Serie keiner
einzigen versklavten Figur Gesicht, Tiefe oder Zeit für Machtkritik gibt. Hinzu
kommt ein riesiges Greifenmonster, das den Turm beherrscht und sich von Hass
ernährt, aber keinesfalls mit Hass besiegt werden darf. Und wie genau sonst? Jede
Kampfszene aus Sailor Moon, in der gleißendes Licht Dämonen zerfräst,
sobald die Heldin die Macht der
Freundschaft beschwört, wirkt überlegter und philosophischer.
Ein
Höhepunkt aber ist, ganz unironisch, wie eine Figur, die in der gestrigen Romanvorlage
gar nicht vorkam, die besten Gruselmomente der Serie trägt. Becky (Lea Drinda,
ebenfalls bekannt aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo) erscheint wie eine typische
letzte Überlebende aus einem ebenso typischen Horrorfilm der Neunzigerjahre.
Sie passt zu einer interessanten Clique, die ohne viel Streit oder künstlich
konstruierte Konflikte an der Seite von Mark steht. Jugendliche, die eben noch Bibi
Blocksberg im Kino oder Gruselserien auf dem Kinderkanal geguckt haben,
könnten mit Der Greif deshalb den nächsten Schritt wagen. Die Serie ist zwar
nicht frischer als die besten TKKG-Folgen, aber auch nicht viel
schlechter als der Netflix-Erfolg Wednesday.
Trotzdem
wird niemand über 16 auf die Idee kommen, irgendetwas an Der Greif tiefschürfend
oder gar erwachsen zu finden, zumal die Modernisierungen der Buchvorlage eher
pflichtschuldig und unüberlegt wirken. Marks wichtigster Stichwortgeber ist der Metal-Fan
Memo (Zoran Pingel), der im Schwarzen Turm seine Behinderung, ein steifes Bein,
verliert und deshalb für immer dort bleiben will. Völlig allein, aber dafür
ohne Behinderung zu leben, scheint der Figur erstrebenswerter, als mit Behinderung
unter Freunden zu sein. Zwei Steinsoldaten sind kurz zärtlich miteinander, und wenig
später ist einer von ihnen tot. Selbst am Beispiel seiner Steinmänner
reproduziert Der Greif Kill-your-gays-Filmklischees.
Erwachsene
sollten sich Der Greif also nur anschauen, wenn sie noch einmal Jugendliche
sehen wollen, die nicht nur gekleidet und frisiert sind wie Till und Antonia aus
der RTL-Soap Unter uns, sondern auch ähnliche Dialoge aufsagen.
Bildsprache und Wendungen der Serie weisen zurück nach 1994, ins Jahr ihrer
Handlung. Auch deshalb wünscht man sich beinahe eine VHS-Edition von Der
Greif, die dann im Regal gleich neben den alten Hohlbein-Büchern verstauben
kann.
Die sechs Folgen von „Der Greif“ sind bei Prime Video verfügbar.