Der blinde Fleck unseres Begehrens
Das letzte Mal, als sie zum Verbeugen nach vorne kommt, im bläulich schimmernden Halbdunkel, zu den Klängen der Striptease-Serenade „Dèshabillez-moi“, da beugt sie sich mit lasziver Geste vor und öffnet die obersten beiden Knöpfe ihrer Bluse. Beim dritten Knopf hält sie inne, zwinkert, wirft ein paar Luftküsse ins Publikum und verschwindet mit einem letzten Lächeln hinter der Bühne: Isabella Rossellini, zu Gast auf dem Festspielhügel in Recklinghausen.
Die inzwischen siebzigjährige Starschauspielerin aus New York, die ihr Leben als Tochter von Ingrid Bergmann und Roberto Rossellini begann, in einem Hotelzimmer in Rom an der Seite eines Kindermädchens aufwuchs, später für Frauenzeitschriften schrieb und als Auslandskorrespondentin in Amerika fürs italienische Staatsfernsehen berichtete, lange Zeit die Cover der Modezeitschriften bestimmte, vom Filmen träumte, in Filmen auftrat, mit bedeutenden Filmmännern ihr Leben verbracht hat – mit Martin Scorsese, David Lynch, Gary Oldman. Dass sie auch eine Ausbildung als Trainerin für Blindenhunde besitzt und vor einigen Jahren einen Masterabschluss in Biologie erlangte, ist weniger bekannt. Insbesondere das Verhalten von Tieren interessiert Rossellini, und weil sie nicht nur Biologiestudentin, sondern auch Schauspielerin ist, bringt sie dieses Interesse nun auf die Bühne.
Voller Mimikrylust
In einem knapp eineinhalbstündigen theatralischen TED-Talk beschäftigt sie sich mit der Frage, wie Tiere ihre Gefühle ausdrücken. Von Beginn an schwebt dabei die Gefahr des Anthropomorphismus über Rossellinis Erklärungsversuchen. Kurzfilme, die ihre Mutter gedreht hat, zeigen sie mit ihren Hunden, Fotografien aus ihrer Kindheit präsentieren sie als leidenschaftliche Tierdarstellerin. Und auch jetzt noch läuft sie voller Mimikrylust als Huhn, als Schnecke und einmal sogar als Affe über die Bühne. Was man ihr an der Universität verboten hat, die Annahme, dass Tiere „wie Menschen“ fühlen, dass sie kichern, wenn man sie kitzelt, dass sie sich zum Trost auf die Schulter klopfen, all das kann sie hier im Rampenlicht wunderbar vorführen.
Was den Pfauen ihr Kleid, sei den Menschen ihre nackte Haut – ein verführerischer Vorteil bei der sexuellen Selektion. „Darwins Lächeln“ lautet der Titel des Abends. Er lässt offen, ob der Begründer der Evolutionstheorie hier als heilige Autorität angerufen oder eher als amüsante Spielfigur eingesetzt wird. In jedem Fall schaut man der Rossellini gern dabei zu, wie sie die Bedeutung wortloser Kommunikation durch ein expressives Mienenspiel unterstreicht. Durch ihre Gesten und Augenaufschläge wird der Abend zur Show. Nicht nur zu einer der Populärwissenschaft, sondern auch zu einer ihrer eigenen Biographie.
Berühmte Filmszene
Zwischen die ethnologischen Schaustückchen schiebt Rossellini immer wieder Erinnerungen an die eigene Karriere. Wie sie eine von Jeff Bridges verlassene Ehefrau spielte und sich dabei am Gestus antiker Statuen orientierte. Wie sie mit ihrem Modefotografen Rollen durchspielte, bis sie die richtige Haltung fand. Die Lesart einer bestimmten Gefühlsregung hängt immer auch von der Anteilnahme seiner Leserschaft ab, so lautet die empfindsame These. Am eindrucksvollsten unterlegt wird sie an diesem Abend durch Rossellinis Erzählung von den Umständen des berühmtesten Films ihrer Mutter, „Casablanca“. Da habe Regisseur Michael Curtiz bis zum Schluss offenhalten wollen, wen Ingrid Bergmans Figur Ilsa wirklich liebe – den Barbesitzer Rick oder ihren verschollen geglaubten Ehemann Victor. Deshalb, so Rossellini, habe sich ihre Mutter für die Wiederbegegnung mit Rick einen Gesichtsausdruck antrainiert, der je nach späterer musikalischer Untermalung aufkommende Freude oder unterdrückte Angst bedeuten könnte.
Um dieses Paradebeispiel gelenkter Empathie vorzuführen, schlüpft die Tochter selbst in die berühmte Rolle der Mutter, während im Hintergrund einmal düster gefährliche und einmal säuselnd liebliche Musik erklingt. Für einen Moment hält der Saal bei diesem riskanten Reenactment inne, fürchtet das epigonale Klischee, aber die Imitation gelingt der Rossellini auf mitreißende Weise. Durch ihre Züge schimmert nicht nur das ikonographische Bild einer bewegten Filmgeschichte, sondern auch die gelassene Souveränität einer erotischen Kraft. Ein Bild der Vergangenheit? Ein Bild der Zukunft? In der Gegenwart jedenfalls berührt die sinnliche Präsenz der Siebzigjährigen eine Leerstelle des Begehrens gerade auch der jüngeren Generation. Der Blumenstrauß, mit dem sie von der Bühne schritt, wurde ihr von einem Mittzwanziger überreicht.
Source: faz.net