Deeskalation | Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte: Wer sie ausblendet, macht es sich zu leichtgewichtig

Die erste Seite der Ausgabe vom 11. Januar 1991 dokumentiert einen Schock. Zwei Monate war der Freitag, das neue aus dem Ostberliner Sonntag und der Westberliner Volkszeitung hervorgegangene Blatt, erst alt, da gab es schon wieder einen Krieg – dabei hatten wir doch geglaubt, nach dem Ende des Kalten Krieges sei es überhaupt mit der Kriegsära vorbei. Und nun das: Der irakische Machthaber Saddam Hussein hatte seine Truppen ins kleine Nachbarland Kuwait einmarschieren lassen. Eine vom Sicherheitsrat der Vereintein Nationen unter Führung der USA beschlossene, von US-Truppen durchzuführende Strafaktion stand bevor. Saddam war ein Ultimatum gestellt worden.

Das Titelbild der Ausgabe vom 11. Januar zeigt in Nahaufnahme fünf Soldaten mit widerlich weißen Masken, die schlimmer als Totenköpfe aussehen. Unterschrift: „Gaskrieg-Training in der Wüste“. Das Bild nimmt mehr als die ganze obere Hälfte der ersten Zeitungsseite ein, ein Layout, zu dem der Freitag erst wieder zurückkehrte, als Jakob Augstein ihn 2008 übernahm. Die Überschrift des Artikels darunter besteht nur in den Worten „Déjà vu“. Ohne weitere Erklärung. Die Botschaft ist klar genug: Wir sind fassungslos.

Tatsächlich endete damals nicht, sondern begann eine Ära immer neuer Kriege, und darauf waren wir nicht vorbereitet. Der Freitag würde ein Blatt werden, das Kriege begleitete und zum Frieden aufrief. Ein Blatt aber auch, das zu verstehen versuchte, was da eigentlich ablief. Im Artikel „Déjà vu“ werden führende westdeutsche Politiker zitiert, die offenbar auch erschrocken waren: Hans-Dietrich Genscher (FDP), damals Bundesaußenminister unter Kanzler Helmut Kohl (CDU), hatte „Verhandeln, nicht schießen“ gesagt, als das Ultimatum gegen Saddam Hussein schon lief. Und Willy Brandt als Vorsitzender der oppositionellen SPD: Man müsse Saddam „endlich zuhören“.

Kriege müssen verhindert, nicht nur beendet werden

Wer das heute liest, reibt sich die Augen, so viele sind inzwischen von den Kriegslogikern umgedreht worden. Mit Saddam Hussein verhandeln, ihm zuhören? Er hatte doch Kuwait überfallen, was gab es da noch zu fackeln? Nun, damals wussten noch alle in Deutschland, erstens, dass Kriegen Konflikte zugrunde liegen, und zweitens, dass nicht nur das Vom-Zaun-Brechen eines Krieges schuldig macht, sondern der Krieg als solcher, wie immer entstanden, ein um sich greifender Massenmord und somit die größtdenkbare Schuld überhaupt ist. In unseren Tagen hat Jürgen Habermas es in Erinnerung gerufen. Die Schlussfolgerung kann nur sein, dass man Kriege zu verhindern beziehungsweise schnellstmöglich zu beenden versucht. Wer dann bloß einen Saddam Hussein bestrafen will, leistet das nicht.

Der Artikel stellt fest, dass da eine Logik sich durchsetzte, die Europa damals noch nicht erfasst hatte: Die USA waren eine Polizei und ihr stand ein Verbrecher gegenüber. Mit einem Verbrecher wird nicht verhandelt, sondern er hat zu kapitulieren. Weil es bei Adolf Hitler wirklich so gewesen war, würden nach 1990 alle Kriegsgegner des Westens, ob Hussein, Milošević oder Putin, als Hitler-Remakes gelten.

Gegen den Krieg: Aber wie?

Natürlich wurde schon damals auf München 1938 verwiesen: die „Appeasement“-Politik, mit der England und Frankreich im Vorjahr des Zweiten Weltkriegs versuchten, Hitler zu mäßigen. Damit beschäftigt sich am 8. Februar 1991 ein Artikel von mir. Er referiert, dass es den Westmächten vor allem darum gegangen war, eine Volksabstimmung im Sudentenland über die gewünschte Staatszugehörigkeit zu verhindern. Denn das wäre ein Präzedenzfall für ganz Osteuropa geworden, wo der Versailler Vertrag überall Staaten geschaffen hatte, in denen „Titularnationen“, wie man sie heute nennt, mit nationalen Minderheiten im Streit lagen. Da zogen die Westmächte es vor, Hitler das Sudetenland ganz ohne rechtliche Basis zu übergeben.

Ich folgte Hannah Arendt, die den Versailler Vertrag dafür kritisiert, dass er das westeuropäische Nationenprinzip auf Osteuropa ausgedehnt hatte, wo es nicht funktionieren konnte. Hitler hatte das ausgenutzt, indem er sich 1938 noch als Nationalist gab – was er nicht wirklich war: Er wollte nur seinen Plan, ganz Osteuropa zu versklaven, noch nicht offenbar werden lassen. Hätte man, statt mit ihm zu verhandeln, gleich schießen sollen? Nein, sagt der Artikel, der mit Ambulance Disaster, einer Tafel Andy Warhols, illustriert ist: Das hätte Hitlers Scheinlegitimation ja noch verstärkt. Es wurde aber falsch verhandelt. Eine Osteuropakonferenz wäre zu fordern gewesen, sie hätte Hitler den Wind aus den Segeln genommen.

Entsprechend, fährt der Artikel fort, müsse es 1991 eine Nahostkonferenz geben, um „das Selbstbestimmungsrecht der Völker“ zu realisieren – „des arabischen, des kurdischen, des israelischen und des palästinensischen Volkes“. Dass ich mich so aufs Selbstbestimmungsrecht kaprizierte, war bestimmt ein Fehler. Einer indes, der auf dem Erkenntnisweg nicht fehlen konnte. Ist es nicht heute wieder aktuell notwendig, vom Selbstbestimmungsrecht zu sprechen, das Palästina verweigert wird? Trotzdem, „das“ Selbstbestimmungsrecht war nicht Lösung, sondern Teil des Problems, wie ich bald begriff.

Die militärische Eskalation hat immer eine Vorgeschichte

1993, beginnend mit der Ausgabe vom 23. April, stellte ich in einer dreiteiligen Artikelserie fest, dass das Problem im Recht selber, wie es sich entwickelt hatte, bestand und nicht bloß darin, ob es befolgt wurde oder nicht. Inzwischen tobten die jugoslawischen Sezessionskriege. Der Artikel zeigte nun, dass ein auf Nationen orientierendes Völkerrecht, wie es nach dem Ersten Weltkrieg allgemein galt – das heißt, für die nicht kolonialisierten Völker –, zwei miteinander oft unvereinbare Prinzipien kombinierte, nämlich eben das Selbstbestimmungsrecht, das Staaten zu Nationalstaaten machte, mit deren Souveränität.

Souverän waren Staaten, die ihre Grenzen schützten. Für die Überschreitung von Grenzen ist „Aggression“ die Übersetzung ins Lateinische. Sie ist völkerrechtlich verboten. Doch der kroatisch-serbische Konflikt hatte, als er noch keiner war, damit begonnen, dass Serben sich in den kroatischen Ostgebieten ansiedelten. Sie als Erste hatten die Grenzen überschritten, und das war keine Kriegshandlung gewesen. Es war aber die Basis des späteren Krieges.

Der Artikel reflektiert, dass militärische Aggression stets die Folge einer Eskalation ist und sie ihrerseits steigert. Es sei daher stets notwendig, für Deeskalation einzutreten und sie vor allem auch zu verrechtlichen. Der Artikel dokumentiert damit, dass sich der Freitag in die Tradition der Friedensbewegung stellte, die nach 1981 in der BRD wie auch in der DDR im Zuge der NATO-„Nachrüstungs“-Debatte entstanden war. In Westdeutschland war damals die Zeitschrift kultuRRevolution um den Literaturwissenschaftler und Soziologen Jürgen Link gegründet worden, deren erstes Heft den Eskalationsbegriff ins Zentrum gerückt hatte. Daran erinnert der Freitag-Artikel von 1993 ausdrücklich. In der DDR war Friedrich Schorlemmer die Zentralfigur der Friedensbewegung gewesen: Der Freitag berief ihn zehn Jahre später zum Mitherausgeber.

Die erste internationale Reaktion, schrieb ich 1993, auf jeden schwelenden oder „aggressiv“ ausgebrochenen Konflikt müsse darin bestehen, dass „erst einmal eine Eskalationsanalyse“ vorgenommen wird. „Auf sie gestützt, würde man der Aggression bewaffnet und mit Sanktionen entgegentreten, zugleich aber über die nichtmilitärischen Eskalationsschritte, die der Aggression vorausgegangen sind, mit dem Aggressor verhandeln. So hätte man mit Serbien um die IWF-Bedingungen, mit dem Irak über den angeblichen oder wirklichen Wirtschaftskrieg Kuwaits verhandelt.“ Artikel 24 des Grundgesetzes sei umzuformulieren: „Deutschland verpflichtet sich, niemals an einer Aggression oder sonstigen Eskalation teilzunehmen. Es tritt Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit bei, die den Frieden herbeiführen und sichern, indem sie Konflikte auflösen oder wenigstens deeskalieren.“

Ich finde es im Rückblick wichtig, dass wir rechtlich herangingen, statt bloß „realistisch“ die „Interessen“ potenzieller oder wirklicher Kriegsgegner gegeneinander abzuwägen. Rechtlich herangehen bedeutete aber eben nicht einfach, „das“ Recht anzuwenden, vielmehr wäre es weiterzuentwickeln gewesen, da es konfus war im Zuge einer Geschichte von Nationalstaaten.

Die Kriegsmentalität nimmt wieder zu, ihr entgegenzutreten, bleibt die Aufgabe dieser Zeitung.

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Der Freitag wird 35 Jahre alt!

Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.

Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.

Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!