Debatte um die Rente: Deutschland ist kein Land voller Dachdecker

Dirk Sindermann macht keinen Hehl daraus, dass er in einem anstrengenden Beruf arbeitet. „Wenn Sie an einem Schrägdach arbeiten, ist an Ergonomie nicht zu denken“, sagt der Dachdeckermeister, der einen Betrieb mit 20 Mitarbeitern in Dortmund leitet. Wenn man den ganzen Tag auf dem Dach stehe und 10 Kilogramm schwere Ziegel anbringe, „gehen jeden Tag mehrere Tonnen Gewicht durch die Hände“. Vieles habe sich verbessert, seit der heute 53-Jährige selbst seine Ausbildung gemacht hat, sagt er. Das betrifft die technischen Hilfsmittel wie auch den „unauffäl­ligen“ Lebensstil der jungen Dachdecker, ohne übermäßigen Alkohol- und Zigarettenkonsum. Aber am Ende des Tages müsse der Dachdecker nun mal aufs Dach. Diese Arbeit mit 70 Jahren noch zu machen, sagt Sindermann, sei völlig illusorisch.

Der 70 Jahre alte Dachdecker ist eines der Lieblingsfiguren derjenigen, die ge­gen eine mögliche Erhöhung des Renteneintrittsalters Sturm machen. In der Politik ist eine solche Erhöhung über das Niveau von 67 Jahren hinaus, das ab 2031 gelten soll, bisher weitestgehend ein Tabu, gerade unter den Regierungsparteien von Uni­on und SPD, die von vielen älteren Menschen gewählt werden. Die Ausnahme bildet Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU). Im Juli hatte die Ministerin in der F.A.Z. gesagt, es könne „auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenen­lebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“, und die Rente mit 70 ins Spiel gebracht. Das löste eine Welle der Kritik aus, nicht nur beim Koalitionspartner SPD, sondern auch im Sozialflügel ihrer eigenen Partei. Kurze Zeit später verabschiedete die Koalition eine Reform, die das Problem durch eine Stabilisierung des Rentenniveaus und eine Ausweitung der Mütterrente eher noch vergrößerte.

Deutschland, ein Land der Dachdecker?

In der vergangenen Woche hat Reiche nachgelegt. Die Deutschen müssten „angesichts einer höheren Lebenserwartung länger arbeiten“, es brauche außerdem weniger Anreize, früher in Rente zu gehen, sagte Reiche. Vier Ökonomen, die sie als Berater berufen hat, hatten zuvor Vorschläge unterbreitet, wie eine Reform aussehen könnte. Eine der Ideen: eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung. So soll festgehalten werden, dass Menschen im Schnitt halb so lange im Ruhestand sind, wie sie zuvor gearbeitet haben. Alle zehn Jahre würde das Rentenalter um ein halbes Jahr ansteigen, weil die Menschen länger leben, sodass in den 2070er- Jahren die Marke von 69 erreicht wäre.

Es muss etwas passieren mit der Rente. Davor kann man nicht mehr die Augen verschließen. Fast 20 Millionen Menschen werden bis zum Jahr 2036 das gesetzliche Rentenalter erreichen. Heute kommen auf einen Rentner noch 2,5 Personen im erwerbsfähigen Alter. 2035 werden es nur noch zwei sein. Der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt wächst und wächst.

Doch ist Arbeiten bis 69 überhaupt realistisch? Wenn der Dachdecker nicht so lange auf dem Dach stehen kann, führe das für ihn zu einer „effektiven Rentenkürzung“, sagt Dachdeckermeister Dirk Sindermann, weil Handwerker dann eben mit entsprechenden Abschlägen früher ausscheiden würden.

Dass einzelne Berufsgruppen nicht so lange arbeiten können wie andere, muss aber nicht gegen eine grundsätzliche Anhebung des Rentenalters sprechen. „Es ist doch merkwürdig, dass wir uns Deutschland als ein Land voller Dachdecker vorstellen“, sagt Axel Börsch-Supan. Der Ökonom ist der Direktor des Münchener Forschungsinstituts für die Ökonomik des Alterns. Tatsächlich könnte ein großer Teil der Bevölkerung gut auch noch länger arbeiten. Dafür sprechen Zahlen, die Börsch-Supans Institut erhoben hat: Im Alter von 60 Jahren sagen 78 Prozent der Befragten von sich selbst, dass ihre Gesundheit gut oder sehr gut ist. Mit 70 Jahren sind es immer noch 71 Prozent. Das seien zwar weniger als mit 60, räumt Börsch-Supan ein. Aber „zu sagen, die können alle nicht mehr arbeiten, ist mit 70 genauso unsinnig wie mit 60 oder 40“. Ähnliches zeigt sich, wenn man die Leute nicht nach ihrer eigenen Einschätzung fragt, sondern sie körper­lichen Tests unterzieht. 60 Jahre alte Menschen können im Schnitt eine Hantel mit 38 Kilo Gewicht heben, 70-Jährige schaffen noch 34 Kilo. Viel größer ist die Spanne innerhalb der Altersgruppen. Es gibt 70-Jährige, die fitter sind als 60-Jährige.

Zudem muss man davon ausgehen, dass ein Regeleintrittsalter von 69 ohnehin nicht bedeutet, dass tatsächlich alle Menschen mit 69 in Rente gingen. Genauso wenig, wie sie es bisher mit 65 beziehungsweise bald 67 Jahren tun. Nach einer Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gehen die Menschen in Deutschland im Durchschnitt zwischen 62 und 64 Jahren in den Ruhestand, je nach Berufsgruppe. Am kürzesten arbeiten die Sicherheits­berufe, etwa Polizisten, für die besondere Regeln gelten, mit einem durchschnitt­lichen Ruhestandsalter von 61,8 Jahren. Am längsten arbeiten mit 64,1 Jahren die Beschäftigten in Land-, Forst- und Gartenbauberufen, also in durchaus körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten.

Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass der 70-jährige Dachdecker als Ar­gument wenig taugt. Dachdecker gehen in Deutschland durchschnittlich mit 63,5 Jahren in Rente, nicht früher als die meisten andere Berufe. Wie kann das sein, wo doch der Beruf ohne Frage körperlich anstrengend ist?

Dachdecker sind häufig auf die Erwerbsunfähigkeitsrente angewiesen. Doch was oft nicht berücksichtigt wird: Die wenigsten Dachdecker steigen im hohen Alter überhaupt noch auf Häuserdächer. Nur 10 Prozent von ihnen ar­beiten im Alter zwischen 60 und 65 Jahren noch in diesem Beruf, wie Zahlen der Sozial­kassen des Dachdeckerhandwerks zeigen.

Ökonomen vom Zentrum für Euro­päische Wirtschaftsforschung in Mannheim haben schon 2012 festgestellt, dass vor allem junge Menschen als Dachdecker arbeiten, um sich dann später umzuorientieren. Der Beruf werde schlecht bezahlt, erfordere geringe Qualifikationen und biete wenige Aufstiegsmöglichkeiten. Die meisten Dachdecker suchten sich daher spätestens mit 40 oder 50 etwas Neues.

„In­sofern geht die Frage, ob Dachdecker bis ins hohe Alter in ihrem Beruf arbeiten können, ziemlich an der heutigen Realität vorbei“, folgern die Ökonomen. In dem Alter, in dem sich die Frage nach dem Ruhestand stellt, seien offensichtlich die weitaus meisten Dachdecker schon lange nicht mehr in ihrem ursprünglichen Beruf. Das ist eine Entwicklung, die auch Dirk Sindermann aus Dortmund kennt, obwohl die Entlohnung inzwischen durchaus üppig sei. „Meine jungen Mitarbeiter sind heute alle super weitsichtig“, sagt er. Sie würden sich gut überlegen, ob eine Umorientierung nicht der bessere Schritt sei. Was den Un­ternehmer vor ein Problem stellt, weil ihm die Fachkräfte davonlaufen, ist für die individuellen Erwerbsbiografien keine schlechte Nachricht.

So müsste es eigentlich viel öfter laufen, sagt Monika Rieger. Sie ist Arbeitsmedizinerin und Professorin an der Universität Tübingen. Es gebe ohne Frage Berufe, die körperlich belastend sind. Daran ändere auch der medizinische Fortschritt nicht grundlegend etwas. Aber für die Menschen, die davon stark betroffen sind, mache der Unterschied zwischen 67 und 69 Jahren am Ende wenig aus. „In der Gesellschaft ist noch nicht angekommen, dass Menschen nicht mehr von der Ausbildung bis zur Berentung in demselben Betrieb oder in demselben Beruf arbeiten“, sagt Rieger. Dass die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit heute mentale Erkrankungen sind, sagt der Ärztin zufolge auch wenig über die Arbeitskraft im Alter aus. Denn psychische Erkrankungen treffen auch schon junge Menschen.

In Island arbeiten doppelt so viele Ältere

Das tatsächliche Renteneintrittsalter ist im Übrigen heute weit davon entfernt, ein neues Rekordniveau zu erreichen. Eingeführt wurde die Rente einst unter Reichskanzler Otto von Bismarck mit einem regulären Eintrittsalter von 70 Jahren. Erst später wurde es auf 65 Jahre gesenkt. Aber in der Praxis arbeiteten zumindest die Männer bis in die Sechzigerjahre trotz niedrigerer Regelgrenze noch um einiges länger als heute. „Das war aus der Not geboren. Damals wurde jede Hand gebraucht“, sagt Ökonom Börsch-Supan. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, die mit großem Arbeitskräftemangel einherging. „In diese Situation kommen wir heute wieder.“ Erst in den 1970er-Jahren fiel das tatsächliche Rentenalter infolge einer Reform unter die Schwelle von 65, unterhalb derer es bis heute liegt.

Auch andere Länder zeigen, dass die Gesundheit einer längeren Lebensarbeitszeit nicht im Weg stehen muss. In Deutschland arbeiten nach Daten der Europäischen Union noch 21,5 Prozent der Menschen im Alter von 65 bis 69. Das ist zwar über dem EU-Durchschnitt. Aber in Dänemark sind es 32 Prozent, in Norwegen 34, in Estland 40, in Island 49 Prozent. Dass es sich dabei gerade um die sozialdemokratisch geprägten Länder Nord­europas handelt, zeigt, dass ein späterer Renteneintritt kein Zeichen sozialer Verrohung sein muss.

Ein großes Hindernis für das Arbeiten im Alter sieht Ökonom Axel Börsch-Supan derweil gar nicht in der Gesundheit, sondern im Verhalten von Unternehmen, Gewerkschaften und Staat. Denn im öffentlichen Dienst ebenso wie in vielen Tarifverträgen in der Privatwirtschaft ist das Ende des Arbeitslebens von vornherein festgeschrieben. „Dass man in manchen Branchen regelrecht ein Arbeitsverbot für Ältere ausspricht, passt nicht mehr in die Zeit“, sagt Börsch-Supan. Er spricht sich für ein flexibles Renteneintrittsalter aus. Jeder müsse selbst wählen können, ob er länger arbeiten möchte, und dann auch entsprechend mehr Rente bekommen. Zu­gleich müsse denen geholfen werden, die wirklich schon in jungen Jahren nicht mehr können.

Dafür ist eigentlich die Erwerbsminderungsrente vorgesehen. Würde man diese großzügiger gestalten, etwa indem auch Menschen mit nur leichten Einschränkungen einen teilweisen Anspruch darauf bekommen, könnte man viele der Härtefälle abfedern. So könnte man denjenigen, die nicht mehr zu einem Vollzeitjob in der Lage sind, einen sanf­teren Übergang in den Ruhestand ermög­lichen. Und junge Menschen könnten weiterhin guten Gewissens Dachdecker werden. Eigentlich sei das doch ein schöner Beruf, sagt Dachdeckermeister Dirk Sindermann: „Wo wir sind, ist oben.“ Die Zahl der Auszubildenden ist gerade wieder gestiegen.