Debatte | Friedrich Merz und seine Denkverbote: Für Freiheit und ein Tempolimit

Friedrich Merz „glaube nicht“, dass ein Tempolimit Deutschlands Erdgas-Abhängigkeit von Russland verringern könnte. Genau das tut es aber – und noch viel mehr

Von einer verblödeten Diskussion lässt sich sicher ausgehen, sobald jemand von „Denkverboten“ spricht. Das Denken lässt sich nicht verbieten, man kann sich höchstens weigern, einen bestimmten Gedanken auszusprechen. Wenn er einem aber gar nicht kommt, so ein Gedanke, dann wurde einem das Denken nicht verboten, dann hat man in diese Richtung schlicht nicht gedacht.

Wie das aussieht, wenn einer nicht denkt, ließ sich jüngst bei Friedrich Merz beobachten: Er „glaube nicht“, dass ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen Energie sparen würde, sagte er bei einer Pressekonferenz. Eingebracht hatte diesen blasphemischen Vorschlag ausgerechnet Parteikollege Jens Spahn. Der meinte: Wenn die Grünen sich bereit erklärten, die Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, dann könne man ihnen ja entgegenkommen – zum Beispiel mit einem generellen Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Dass ein solches in dieser Legislaturperiode ausdrücklich nicht beschlossen werden soll, steht auf Wirken der FDP im Koalitionsvertrag. Der wurde allerdings vor dem Krieg in der Ukraine beschlossen.

Zur Erinnerung: Derselbe Merz, der nun nicht an ein Tempolimit „glaubt“, empfahl in einem Gastbeitrag für die Bild vor wenigen Wochen noch den Grünen, „keine Denkverbote“ walten zu lassen, wenn es um die Lösung der zu erwartenden Energiekrise geht. „Tut es für Deutschland!“, fügte er hinzu, wie der Politiker aus dem vorangegangenen Jahrtausend, der er ist.

Zynische Gags und Bauchgefühl

„Für Deutschland“ mag in Merz‘ Welt vieles denkbar sein, aber kein Tempolimit. Allein ist er damit nicht: „Keine Option“ ist eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Andreas Scheuer bezeichnete die Idee gar als „gegen jeden Menschenverstand“. Und natürlich ist auch das liberale Milieu nie weit, wenn es darum geht, Bestehendes mit Glaubenssätzen, Bauchgefühlen und Argumenten aus dem Paulanergarten zu verteidigen. Der Chefredakteur der liberalen Welt hielt dem Argument, Tempolimits verringerten Verkehrstote, einst entgegen: „Wer garantiert denn, dass dann nicht vielleicht 15 Ex-Raser vor Müdigkeit einschlafen?“

Wo Diskussionen über Tote „sentimental“ genannt werden und für einen zynischen Gag taugen, da watet man bereits knietief in menschenfeindlicher liberaler Irrlogik. Aber lassen wir uns von der Macht der Anderen nicht dumm machen, wie es bei Adorno heißt, helfen wir lieber den Merzens, den Söders und den Scheuers, den Lindners und den Poschardts dieses Landes bei dem, was ihnen offenbar sehr schwer fällt: Denken.

Dabei ist die Denkaufgabe gar nicht so groß, und selbst Liberale müssten in ihrem Fortschrittseifer erkennen: Im Hinblick auf das Tempolimit ist Deutschland ein Entwicklungsland. Die Bundesrepublik fällt hier weit hinter zivilisatorische Standards zurück, die beinahe überall auf der Welt längst etabliert sind. Kaum irgendwo sonst auf diesem Planeten kann man sich auf der Autobahn nach Herzenslust totfahren und nebenbei kräftig am globalen CO2-Ausstoß mitwirken. Zugereisten kommt das oft absurd vor – mit Recht –, aber auch Einheimischen: Rennfahrer Sebastian Vettel sprach sich kürzlich für ein generelles Limit von 130 km/h aus, um Verkehrstote und Umweltschäden zu minimieren. Knapp die Hälfte der Deutschen ist in Umfragen dafür – sogar die Mehrheit der ADAC-Mitglieder*innen sprach sich pro-Tempolimit aus. Allein die herrschende Klasse will sich ihr Recht auf Rasen nicht nehmen lassen, schon gar nicht von Rennprofis, oder schlimmer noch: der Bevölkerung.

Idiotisch ist das in vielerlei Hinsicht, denn: Natürlich würde ein Tempolimit Energie sparen, auch Erdgas. Die Raffinerien, die unser Heizöl produzieren, brauchen dafür Gas. In einer Pressemitteilung wies darauf schon vor einigen Wochen der Geschäftsführer des Wirtschaftsverbandes en2x hin. Weniger Erdgas für die Produktion von Benzin- und Dieselkraftstoffen heißt also: mehr Erdgas fürs Heizen.

Erdgas wird ebenfalls benötigt, um AdBlue herzustellen – ein wichtiger Katalysator für viele Dieselmotoren. Diesen Aspekt verdeutlichte Carsten Pfeiffer vom Bundesverband Neue Energiewirtschaft auf Twitter. AdBlue wird vor allem bei Beschleunigungsvorgängen verbraucht. Ein generelles Tempolimit reduziert die Beschleunigungen auf der Autobahn signifikant – weniger AdBlue wird benötigt, ergo auch weniger Erdgas.

Ein Limit für die Freiheit

Sinnvoll wäre ein Tempolimit auch in einem ganz anderen Maßstab: Weniger Beschleunigungen und geringere Geschwindigkeiten verkleinern Deutschlands Ausstoß von Treibhausgasen. Die knapp 70 Millionen Autos in Deutschland emittieren fast 40 Millionen Tonnen CO2 und CO2-Äquivalente jährlich. Mit rund 20 Prozent ist der Verkehr dabei der drittgrößte CO2-Emittent überhaupt. Eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h würde 2,6 Millionen Tonnen CO2 sparen, selbst bei einem Tempolimit von 130 km/h wären noch 1,9 Millionen drin – so ermittelte es vergangenes Jahr das Umweltbundesamt. Das klingt zwar nach wenig, wäre aber geboten, vor allem im Hinblick auf Deutschlands seit Jahren verfehlte CO2-Ziele.

All das kann nicht begreifen, wer sich selbst Denkverbote auferlegt und sich diesen Erkenntnissen verschließt. Vielleicht liegt es am Wording. Niemand mag Verbote, vor allem Kinder hassen sie, weil sie immer alles dürfen wollen, auch wenn es ihnen nicht guttut – wie Liberale. Aber streng genommen handelt es sich beim Tempolimit um ein Freiheitsversprechen: freiere Autobahnen zum Beispiel oder die Freiheit, nicht am Unfalltod zu sterben, oder an einem der mannigfaltigen Effekte des Klimawandels.

Also, lieber Friedrich Merz, lieber Markus Söder, lieber Andreas Scheuer, lieber Christian Lindner und lieber Ulf Poschardt: Weg mit den Tempolimit-Verboten, her mit der Freiheit – fürs Klima, für eine energetische Unabhängigkeit von Russland, für einen sichereren Straßenverkehr! Und wenn das alles nicht überzeugt, dann eben: „für Deutschland“.

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