Das übersehene Trafo-Problem dieser Energiewende
Der Koloss ist so breit wie ein Reihenhaus, 340 Tonnen schwer, und er hat etwas latent Furchteinflößendes an sich. Denn in dem Großtransformator im Umspannwerk Daxlanden am Stadtrand von Karlsruhe fließt Strom mit einer Spannung von mehreren Hunderttausend Volt – gut tausendmal so viel, wie daheim aus der Steckdose kommt.
Die riesigen Apparate zur Spannungsumwandlung von elektrischem Strom hat jeder schon mal gesehen. Transformatoren stehen landauf, landab und oft im Freien in Umspannwerken wie dem in Daxlanden. Ohne Transformatoren kein funktionierendes Stromnetz – und genau da fängt das Problem an: Überall auf der Welt werden für die Energiewende die Stromnetze ausgebaut. Prognosen zufolge wird ihre Gesamtlänge weltweit allein bis Ende des Jahrzehnts um rund 16 Millionen Kilometer wachsen. Und dafür werden nicht nur Kabel und Strommasten benötigt, sondern auch viele Tausend neue Transformatoren.
„Alarmierend“ sei die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage
Doch die sogenannten Leistungstransformatoren, wie Ingenieure die dicken Brocken nennen, sind zum größten Engpass beim Ausbau der globalen Stromnetze geworden. Der Weltmarkt ist wegen des sprunghaft gestiegenen Bedarfs wie leer gefegt, führende Hersteller sind auf Jahre hinaus ausgebucht. „Alarmierend“ sei die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt für Großtransformatoren, schreiben die Experten des norwegischen Analysehauses Rystad Energy in einer Studie. Ein „perfekter Sturm“ habe sich da zusammengebraut.
Der große Trafo-Engpass verzögert an vielen Stellen die internationale Energiewende. Und teurer wird sie dadurch auch. Nach einer Erhebung der Internationalen Energieagentur in Paris haben sich die Preise für Großtransformatoren seit 2019 teilweise weit mehr als verdoppelt – Tendenz weiter steigend. Großtransformatoren für Umspannwerke können inzwischen einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag kosten.
An derart wilde Zeiten können sich auch altgediente Branchenmanager nicht erinnern. „Einen solchen Boom wie heute hat unsere Branche noch nie erlebt“, sagt Erhard Eder, der beim Energietechnikkonzern Siemens Energy für die weltweite Transformatorenfertigung verantwortlich ist. Nichts, was für die Aufrüstung der Stromnetze benötigt werde, sei derzeit so schwer zu beschaffen wie Transformatoren, berichtet auch Andreas Schierenbeck, Chef des Weltmarktführers Hitachi Energy aus Japan. Die Hersteller würden förmlich überrannt von Kundenanfragen.

Es sind Projekte wie das im Karlsruher Vorort Daxlanden, die Siemens Energy, Hitachi und anderen Lieferanten so glänzende Geschäfte bescheren. Das Umspannwerk gehört dem Übertragungsnetzbetreiber Transnet BW, der Teil des Energiekonzerns ENBW ist. Es ist eines der größten in Europa, in den kommenden Jahren macht Siemens Energy die Anlage fit für die Energiewende: Daxlanden ist Teil der „Netzverstärkung badische Rheinschiene“, wie das Großprojekt heißt.
Unverzichtbare Kreuzungen im Stromnetz
Auf 120 Kilometern entlang des Rheintals zwischen Karlsruhe im Norden und dem Kaiserstuhl im Süden wird bis Mitte des nächsten Jahrzehnts eine bestehende Stromleitungstrasse mit 220.000 Volt durch eine neue, leistungsfähigere mit 380.000 Volt ersetzt. Denn vereinfacht gesagt gilt: Je höher die Spannung, umso mehr Strom kann durch die Leitungen fließen. Deshalb arbeiten die großen Stromautobahnen, die in Zukunft zum Beispiel die Windparks in Norddeutschland mit den industriellen Stromverbrauchern im Süden der Republik verbinden sollen, mit einer Stromspannung von mehreren Hunderttausend Volt.
Das deutsche Stromnetz ist in vier verschiedene Spannungsebenen aufgeteilt, weil für verschiedene Zwecke jeweils andere Spannungsstärken gebraucht werden. Vom Höchstspannungsnetz mit 380.000 Volt für den verlustarmen Stromtransport über lange Strecken über die Hoch- und Mittelspannungsnetze bis zum Niederspannungsnetz mit 400 Volt, an das private Haushalte angeschlossen sind.
Transformatoren sind so etwas wie die Kreuzungen im Stromnetz. Immer dann, wenn der Strom die Netzebene wechselt, muss er von Transformatoren auf eine andere Spannung gebracht werden. Neu ist diese Technik nicht, das Funktionsprinzip wurde schon 1831 vom britischen Physiker Michael Faraday entdeckt. Aber unverzichtbar sind die Spannungsumwandler bis heute.
„Der Transformator ist der Kern unseres Stromnetzes“, sagt Hitachi-Energy-Chef Schierenbeck. Umso kritischer ist jetzt der Mangel an verfügbaren Leistungstransformatoren. Dabei galten sie viele Jahre lang als zwar sperrige, aber jederzeit schnell verfügbare Allerweltsprodukte. In Europa gab es sogar beträchtliche Überkapazitäten in der Fertigung von Großtransformatoren. Der Bedarf wuchs kaum, weil das Stromnetz nicht mehr groß ausgebaut wurde und Trafos viele Jahrzehnte halten, bevor sie ersetzt werden müssen. Immer wieder schlossen Hersteller wie ABB und Siemens mangels Aufträgen Trafo-Fabriken. Heute fehlen diese Werke.
Hitachi-Manager Schierenbeck erinnert sich noch an die alten Zeiten. Bis vor Kurzem sei das Geschäft so gelaufen: Ein Stromversorger schrieb einen Auftrag für einen Transformator aus, entschied sich für einen Hersteller und bekam das Gerät acht bis zehn Monate später geliefert. Heute dagegen seien in Europa Lieferfristen von vier bis fünf Jahren üblich, sagt Siemens-Energy-Manager Eder. Manche Energieversorger berichten sogar von Wartezeiten bis zu sieben Jahren.
Siemens Energy baut neue Fabrik für Transformatoren
Um den Mangel zu bekämpfen, werden jetzt überall auf der Welt Dutzende Trafo-Fabriken gebaut und bestehende erweitert. Für Siemens Energy ist das lange darbende und teilweise hochdefizitäre Geschäft mit Transformatoren plötzlich zur Goldgrube geworden. Im vergangenen Geschäftsjahr hat sich der Auftragseingang in der Netztechnik-Sparte des Dax-Konzerns mehr als verdoppelt. Unter anderem investiert Siemens Energy 150 Millionen Dollar in ein neues Trafo-Werk im US-Bundesstaat North Carolina. Eine Siemens-Fabrik in Nürnberg, wo das Unternehmen derzeit rund 80 Großtransformatoren im Jahr baut, soll ebenfalls ausgebaut werden.
Während in Deutschland die Angst vor der Deindustrialisierung umgeht, schafft der Modernisierungsschub in den Stromnetzen neue Jobs in den Fabriken. Mehr als 1000 Arbeitsplätze habe Siemens Energy in den vergangenen beiden Jahren im Transformatorenbau geschaffen, berichtet Eder, rund 300 davon in Deutschland. Um die neuen Stellen in Nürnberg bewerben sich nicht selten Mitarbeiter aus der kriselnden Autoindustrie, von Audi oder vom fränkischen Zulieferer Schaeffler.
Der Transformatoren-Weltmarktführer Hitachi Energy investiert ebenfalls 1,5 Milliarden Euro in den Ausbau seiner Fabriken in Europa, Asien und Amerika und stellt dafür Tausende Mitarbeiter ein. Unter anderem erweitern die Japaner ein Werk in Bad Honnef. Der asiatische Konzern hat 2022 das Stromnetzgeschäft des Schweizer Elektrokonzerns ABB übernommen und ist damit zu einem Branchenschwergewicht in Europa geworden.
Großtrafos sind oft aufwendige Spezialanfertigungen
Trotzdem hält der Ausbau der Transformatoren-Fertigung bislang nicht annähernd Schritt mit dem schnell steigenden Bedarf. Seit 2019 seien die Produktionskapazitäten weltweit nur um etwa fünf Prozent gewachsen, die Nachfrage nach Großtransformatoren dagegen um 23 Prozent, rechnen Analysten von Rystad Energy in einer Studie vor. Auch die zusätzlich geschaffenen Kapazitäten seines Unternehmens seien bereits für die nächsten drei bis vier Jahre ausverkauft, berichtet Hitachi-Manager Schierenbeck.
Erschwerend kommt hinzu, dass Großtransformatoren oft Spezialanfertigungen sind, die in Handarbeit hergestellt werden. „Maßgeschneiderte Unikate“ liefere sein Unternehmen, sagt der Siemens-Manager Eder. Eine stärkere Standardisierung der Produkte könnte zwar die Lieferfristen verkürzen und Kosten sparen, aber die Branche steht dabei noch am Anfang.
Erstmals abgezeichnet habe sich der Run auf die Transformatoren vor etwa zwei Jahren, berichten Branchenfachleute. Denn der Umbau des Energiesystems für den Klimaschutz führt dazu, dass bei vielen Anwendungen fossile Energieträger durch erneuerbaren Strom aus Windkraft- und Solaranlagen ersetzt werden: Wärmepumpen, Elektroautos und aus Strom erzeugter grüner Wasserstoff statt Erdgas, Mineralöl und Kohle.

Hinzu kommen viele stromhungrige Rechenzentren für die Künstliche Intelligenz, aber zum Beispiel auch immer mehr Klimaanlagen wegen steigender Temperaturen. Die Internationale Energieagentur rechnet vor, dass der globale Stromverbrauch seit 2010 fast doppelt so stark gestiegen ist wie der Energiebedarf insgesamt. Bis zur Jahrhundertmitte sei damit zu rechnen, dass die Welt annähernd doppelt so viel Strom verbrauche wie heute.
Aber die Stromnetze müssen in Zukunft nicht nur viel mehr Strom transportieren als bisher – sie müssen auch flexibler werden. Früher gab es in Deutschland wenige zentrale Großkraftwerke, heute dagegen arbeiten im ganzen Land verteilt Zehntausende von Windrädern und Millionen von Solaranlagen, deren Stromerzeugung je nach Wetterlage und Tageszeit schwankt.
Im Karlsruher Umspannwerk Daxlanden von Transnet BW floss der Strom früher im Wesentlichen in eine Richtung: von einem benachbarten Kohlekraftwerk zu den Verbrauchern draußen im Land. Jetzt dagegen ändert sich in Daxlanden wegen der volatilen Grünstromerzeugung teilweise mehrmals am Tag die Flussrichtung des Stroms. Auch deshalb müssen Umspannwerke modernisiert werden.
Das Problem ist: In Deutschland und vielen anderen Ländern hat der notwendige Ausbau der Stromnetze bei Weitem nicht Schritt gehalten mit dem Tempo des Zubaus von Windparks und Solaranlagen. Entsprechend groß ist der Nachholbedarf. Hitachi-Energy-Chef Schierenbeck drückt es drastisch aus: Die Aufrüstung der Stromnetze für die Energiewende sei lange Zeit „einfach vergessen“ worden, sagt er.
Niemand habe kommen sehen, wie schnell und wie stark der weltweite Bedarf an Großtransformatoren wachsen würde: weder Kunden noch Hersteller noch Branchenanalysten. „Wir sind in einem Superzyklus“, sagt Schierenbeck. Und der habe eben erst begonnen. Seine Prognose lautet: Der Boom im Geschäft mit Transformatoren wird die nächsten zehn bis 15 Jahre so weitergehen.