„Cuckoo“: Wenn die Alpen zum Alptraum werden
Das Gesicht verbirgt sie hinter blonden, kinnlangen Strähnen, und wenn es doch hervorkommt, ist da ein abweisender, trotziger Ausdruck. Er spiegelt sich in ihrer Körperhaltung wider und nicht zuletzt in dem Augenrollen, mit dem sie die Erwachsenen um sich herum bedenkt. Man könnte die 17-jährige Gretchen (Hunter Schafer) in Cuckoo auf den ersten Blick für eine brandaktuelle Verkörperung des in sozialen Medien beschworenen „Brat Girl“-Trends halten, eine görenhafte junge Frau, die bereit ist, anzuecken, ohne dass es dafür eines besonderen Grundes bedarf. Gretchen aber hat triftige Gründe.
Vor kurzem ist ihre Mutter verstorben, die sie allein großgezogen hat, und Gretchen – eben noch nicht volljährig – muss sich in eine ihr fast fremde Familie einfügen: Ihr leiblicher Vater Luis (Marton Csokas), während ihrer Kindheit offensichtlich meist abwesend, hat sie aus den USA zu seiner neu gegründeten Familie geholt, bestehend aus Ehefrau Beth (Jessica Henwick) und der siebenjährigen, stummen Tochter Alma (Mila Lieu). Als wäre das nicht genug der familiären Neukonfiguration inmitten jugendlicher Umbruchzeit, ziehen sie gemeinsam in die bayerischen Alpen, wo Luis und Beth als Architektenpaar den Ausbau des „Alpschatten“-Resorts konzipieren sollen.
„Cuckoo“: Wie ein Kuckuck fremd im eigenen Nest
Den ersten Blick auf diese idyllische Umgebung perspektiviert Cuckoo durch Gretchens Widerwilligkeit. Als Stadtkind und Bassgitarristin in einer Band hat sie nicht viel übrig für Wald und Wiesen. Es dauert nicht lang, bis sie auf die erste Absonderlichkeit dieses abgelegenen Orts trifft: Herrn König, den Betreiber des Resorts. Er begrüßt Gretchens Familie auf überschwängliche Weise. Der Brite Dan Stevens, der bereits in Maria Schraders Ich bin dein Mensch seine perfekten Deutschkenntnisse präsentierte, spielt diesen karikaturesk deutsch stilisierten Herrn König mit einer seltsam sanftmütigen, herzlichen Kälte. Sein ausgefeilter Auftritt, verbunden mit seinem leichten Akzent, amüsiert und befremdet hier zugleich. An Herrn Königs lauernder Art stößt sich aber niemand außer Gretchen. Als er ihr einen Job als Rezeptionistin im Resort-Hotel anbietet, willigt sie dennoch sofort ein – schließlich will sie Geld ansparen, um so schnell wie möglich in die USA zurückzukehren. Ihre Pläne vertraut Gretchen dem noch immer aktiven Anrufbeantworter im Haus ihrer Mutter an, ein letzter Verbindungspunkt zu ihrem verlorenen Zuhause.
Ähnlich, aber noch etwas deutlicher als in seinem Spielfilmdebüt Luz (2018) ebnet der deutsche Drehbuchautor und Regisseur Tilman Singer vor allem durchs Auditive einen Zugang zum besonderen Horror seines Werks. Schrille und hypnotisch surrende Vogellaute dringen aus dem umgebenden Wald, bald stellt sich heraus, dass es mehr ist als bloßer Naturlärm: Diese trillerartigen Klänge haben die Kraft, die Hörenden in eine Zeitschleife zu versetzen. Bei der kleinen Alma lösen sie gar epileptische Anfälle aus.
Dem Rätsel dieser Vorkommnisse kommt Gretchen bei ihrer Arbeit an der Rezeption des Hotels näher, das im wohlig Holzvertäfelten eine Reihe an schrägen bis unheimlichen Auftritten von Gästen und Bediensteten abspult. In den besten Momenten erinnert das an die Schrägheit von David Lynchs bahnbrechender Serie Twin Peaks. Doch während Lynch den Blick auf den gesamten Bau seines Mystery-Plots immer hinter einem jazzigen Schleier zu verbergen wusste, entblößt Cuckoo sein schonungslos wahnwitziges Horror-Konstrukt nach und nach zur Gänze. Die Kuckuck-ähnlichen Schreie aus dem Wald gehören einer Kreatur, die weder ganz Mensch noch Vogel ist, aber das Resort für ihren Brutparasitismus nutzt.
Ein ausschweifender Albtraum
Das nur wenig Schrecken auslösende Äußere dieser Kreatur wirft erste Fragen auf. Weitere stellen sich, wenn im Verlauf von Cuckoo mit fast unnötiger Gründlichkeit die Eigenheit dieses Wesens und seine Absichten offengelegt werden. Kompliziert, brüchig und dann auch wieder simpel wirkt dieser erzählerische Überbau bald und droht den sich anfangs visuell wie akustisch entfaltenden Horror zu überfrachten.
Den Weg durch dieses Konstrukt aber weist eine von Hunter Schafer mit anziehender Einfühlsamkeit gespielte Heldin, die einen Ariadnefaden aus diversen emotionalen Bezugspunkten hinter sich herzieht: Weder geborgen noch zugehörig fühlt sie sich in ihrem Familiengebilde. Der Schmerz über den Verlust ihrer Mutter und ihres Nests spiegelt sich im Kuckucksmotiv des Films mannigfaltig wider. Eine besondere Rolle spielt dabei ihre Stiefschwester Alma, deren Stummheit Gretchen in ihrer Feindseligkeit als Aufmerksamkeit heischenden Affront betrachtet, die in Wirklichkeit aber ein eigenes Rätsel über vielleicht Unsagbares aufgibt.
Das alles ist in seiner emotionalen Komplexität schon so feinsinnig ausgearbeitet und spannungsgeladen, dass es die Erklärerei im letzten Akt eigentlich gar nicht bräuchte. Man hätte sich mehr von jenem Mut zur Verschleierung, zur Ungewissheit gewünscht, der vieldeutige Horrorfilme wie It Follows, aber auch Singers eigenen Film Luz so faszinierend machte. Nichtsdestotrotz funktioniert Cuckoo als einfühlsam geschildertes Coming-of-Age-Horrordrama. Ein ausschweifender Albtraum, in dem emotionale Belastungen und Fremdheit filmisch verarbeitet werden. Auch der idyllischste Ort kann zum einsamen Hort des Schreckens werden.
Cuckoo Tilman Singer Deutschland / USA 2024, 102 Min.