Comic-Kolumne: Faszinierende Normalität in Antonia Kühns „Aufblasbare Eltern“

Der Titel dieses Comics ist enigmatisch: „Aufblasbare Eltern“. Und erklärt wird er auch erst mit dem allerletzten Bild, das wiederum außerhalb der Kernhandlung dieser Geschichte steht. Dennoch beleuchtet es ex post alles, was zuvor erzählt worden ist. Und das ist nicht wenig. Einmal, weil der Comic mehr als dreihundert Seiten hat. Und dann, weil das Thema an sich groß ist: Patchworkfamilien.

Gewartet habe ich lange auf diesen Band. Auch das aus zwei Gründen. Seine Autorin Antonia Kühn, Jahrgang 1979, hat vor mittlerweile sieben Jahren einen Comic namens „Lichtung“ herausgebracht, der mich sehr beeindruckte. Der Band war kaum weniger voluminös als der Nachfolger (und damals auch schon bei Reprodukt erschienen wie jetzt der neue; das ist ja ohnehin ein Qualitätsausweis).

Die Comic-Kolumne von Andreas Platthaus
Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Der zweite Grund für meine Neugier auf „Aufblasbare Eltern“ lag darin, dass Antonia Kühn 2022 dafür den Hamburger Literaturpreis in der Sparte Comics gewonnen hat. Das will angesichts der Konkurrenz im hanseatischen Hotspot für graphisches Erzählen einiges heißen, und so viele Auszeichnungen für Comics gibt es ja gar nicht in Deutschland. Beim Leibinger-Comicbuchpreis hat Kühn sich anscheinend nicht beworben; zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, die Geschichte dort unter den Einreichungen gesehen zu haben. Wie dem auch sei: Ich hatte angesichts der Hamburger Ehrung früher mit der Publikation des Comics gerechnet, aber das Warten hat sich gelohnt.

Ist das nicht „Maus“? Aber die Mäuse heißen Kurz

Wobei Kühn es einem zunächst schwerer macht als in „Lichtung“. Die Graphik erinnert immens an Art Spiegelmans „Maus“, denn alle Akteure in dieser schwarz-weiß gezeichneten Geschichte sind Tiere, und deren unterschiedliche Gestalten charakterisieren die jeweilige Abkunft: So, wie bei Spiegelman Juden Mäuse, Deutsche Katzen, Polen Schweine waren, so sind nun bei Kühn die Mitglieder der Familie Kurz – ja, was? – mäuseartig oder jedenfalls Nagetiere, während die zweite Hälfte der im Mittelpunkt stehenden Patchworkfamilie aus eher katzenähnlichen Wesen besteht (die aber auch etwas Eulenartiges besitzen). Das alles sieht „Maus“ verblüffend ähnlich, aber in „Aufblasbare Eltern“ ist die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Spezies nicht Zeichen für Unverträglichkeit, sondern nur für Diversität. Und sie erleichtert natürlich die jeweilige Zuordnung im Personengespinst der Handlung. Der Familientherapeut des Ehepaars Kurz ist übrigens eine Art Hund.

Zweifelhafte Freuden des Elterndaseins: zwei lautstarke Jungs beim Wanderausflug, Seite 140 aus Antonia Kühns Comic
Zweifelhafte Freuden des Elterndaseins: zwei lautstarke Jungs beim Wanderausflug, Seite 140 aus Antonia Kühns ComicReprodukt Verlag

Nora Kurz ist so etwas wie die Hauptfigur des Buchs. Sie lebt von ihrem Mann Viktor getrennt, aber beide sind durch den gemeinsamen Sohn Milo noch eng miteinander verbunden, und beide geben sich redlich Mühe, im Interesse des halbwüchsigen Kindes gut miteinander auszukommen. So verteilten sich Milos Tage jeweils wochenweise auf die Haushalte beider Eltern, und wenn er bei seiner Mutter ist, dann ist das in der kleinen Wohnung von deren neuem Partner Georg (einer Katze) und dessen Sohn Albert, der ungefähr im selben Alter ist wie Milo.

Des Vaters Freud, der Jungen Leid

Was „Aufblasbare Eltern“ erzählt, ist das Leben von und um Nora: abwechselnd die kindbedingten Treffen mit Viktor, darunter auch die Besuche beim Therapeuten, und ansonsten den Alltag mit Georg. Der bietet durch die beiden Jungen im engen Heim so manche Einschränkung, aber auch große Freuden bei gemeinsamen Ausflügen zur und auf der Elbe – Georg ist ein begeisterter Jollensegler, was die anderen drei allerdings nur bedingt teilen (aus eigenen leidvollen Kindheitserfahrungen kann ich genau nachvollziehen, wie sich Milo und Albert an Bord fühlen). Hinreißend ist ein sommerlicher Ausflug auf das Dach eines höheren leer stehenden Gebäudes in der Nachbarschaft, wo das Quartett unter dort wucherndem Wildwuchs so etwas wie einen Hortus conclusus mitten in der Stadt findet. Allerdings keinesfalls konfliktlos.

Freigestellte Bilder in den Interludien: Milo und Albert an der Carrera-Bahn, Seite 218 des Comics
Freigestellte Bilder in den Interludien: Milo und Albert an der Carrera-Bahn, Seite 218 des ComicsReprodukt Verlag

Und dann gibt es so etwas wie Interludien zwischen den größeren Kapiteln, gekennzeichnet durch offene Panels, also solche ohne Umrahmungen. Auf nur wenigen Seiten werden da kurze Schlaglichter aufs Verhalten der Akteure geworfen, die dadurch pointierter erscheinen als in den längeren erzählenden Abschnitten. Man fühlt sich an Episoden eines Familien-Comicstrips erinnert, die in die Handlung eingeblendet werden, und hier wird auch gewagter mit Perspektiven gearbeitet als in den stark filmisch orientierten Großkapiteln. Diese von flashartigen Episoden durchsetzte Erzählstruktur ist ein Novum – nicht nur bei Antonia Kühn, sondern überhaupt im deutschen Comic, soweit ich es im Moment übersehe.

Nun mag man fragen, was sonst neu an dem ist, was da erzählt wird. In der Tat wenig, aber bemerkenswert ist die Unaufgeregtheit, mit der es geschieht: keine Dramen, sondern die Beschwerlichkeiten eines gewöhnlichen Daseins. Moderate finanzielle Sorgen, das ja, aber keine Existenzängste. Auch kein Missbrauch, Mobbing, Mansplaining. Stattdessen entsteht Spannung aus der Wissbegier, wie Nora es wohl schaffen wird, gerade aus diesem Leben genug Reiz zu ziehen, um weiterzumachen.

Da droht kein Seitensprung, kein Liebesrückfall. Denn alles bei ihr ist Liebe zu Milo und natürlich auch zu Georg. Wie das miteinander verrechnet wird, macht die Spannung der Lektüre aus. Obwohl nichts Spektakuläres passiert, ist der Comic selbst spektakulär in seiner akribischen Porträtierung einer Normalität, die man sich in der Realität wünschen würde.

Source: faz.net