Christian Leye zusätzlich die Stahlindustrie: „Zehntausende Arbeitsplätze sind dringend gefährdet“
Sollte Deutschland seine Stahlproduktion ins Ausland verlagern, könnte das im Falle einer globalen Krise gravierende wirtschaftliche Folgen haben. Darauf weist eine Untersuchung von Ökonomen der Universität Mannheim hin. Nach Berechnungen der Studie drohen der deutschen Volkswirtschaft Wertschöpfungsverluste von bis zu 50 Milliarden Euro pro Jahr, falls das Land ohne eigene Stahlproduktion in einen weltweiten „Stahlschock“ gerät.
Hohe Energiepreise und importierter Billigstahl aus China setzen der Branche erheblich zu. Laut einer aktuellen Statistik der „Wirtschaftsvereinigung Stahl“ ist die Rohstahlerzeugung zwischen Januar und September um fast elf Prozent zurückgegangen. Auf dem Spiel stehen also nicht weniger als Zehntausende Arbeitsplätze. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) gibt vor, die Hilferufe wahrgenommen zu haben, und lädt am 6. November zum „Stahlgipfel“ ins Kanzleramt. Wird er den 90.000 Beschäftigten Hoffnung machen können, dass sie ihre Jobs behalten?
Christian Leye kommt aus Duisburg, wo Thyssenkrupp Steel Europe seinen Sitz hat. Seit Jahren setzt er sich für die Interessen der Malocher dort ein. Was hört er, wie es diesen Menschen geht? Und glaubt er, dass Merz und Co. die richtigen Antworten finden werden, damit die deutsche Stahlbranche nicht vor die Hunde geht? Ein Gespräch über einen unverzichtbaren Wirtschaftszweig – und die Zukunft des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), in dem dieser Tage nicht nur über einen neuen Parteinamen diskutiert wird …
der Freitag: Herr Leye, Sie kommen aus Duisburg und haben sich stets für die Stahlarbeiter bei ThyssenKrupp eingesetzt. Wie ist die Stimmung bei denen? Was kriegen Sie da mit?
Christian Leye: Ernst. Das ist eine sehr schwierige Lage. Vor Ort gibt es 17.000 Arbeitsplätze, die direkt mit der Stahlindustrie verbunden sind. Und an jedem dieser Jobs hängen sechs bis sieben weitere Arbeitsplätze bei den Zulieferbetrieben. Obendrein gibt es natürlich vor Ort viele Läden – vom Friseursalon bis zur Pizzeria –, wo das Geld in Umlauf gebracht wird, das dort verdient wird. Mit anderen Worten: Wir reden am Ende von Zehntausenden von Arbeitsplätzen, die gerade akut gefährdet sind.
Wie bedroht ist die deutsche Stahlindustrie denn Ihrer Meinung nach?
Das hängt von den politischen Entscheidungen ab. Wenn man jetzt nicht eingreift, ist sie sehr bedroht. Die Gesellschaft muss sich eine Sache bewusst machen: Egal, in welcher Zukunft wir leben – in jeder denkbaren Welt werden wir Stahl brauchen. Sei es für Brücken, für Schulen, für Häuser, für den öffentlichen Personennahverkehr, für den Autobau, für Windräder oder was auch immer. Für alles braucht es Stahl! Wenn man sich bewusst macht, dass eine Gesellschaft nicht ohne diesen Werkstoff auskommt, muss man sich fragen: Gibt es nicht ein gesellschaftliches Interesse daran, eine Stahlproduktion im eigenen Land zu haben? Ich glaube: ja. Deswegen muss die Politik dafür sorgen, dass die Stahlindustrie hierzulande am Leben bleibt.
Zu diesem Zweck lädt Friedrich Merz (CDU) am Donnerstag ja ins Kanzleramt zum „Stahlgipfel“ …
Wissen Sie, bei Stahlkrisen gibt es immer Gipfel, und Spitzenpolitiker kommen vorbei und schütteln die Hände. Das ist auch alles schön und gut. Aber am Ende kommt es auf die Ergebnisse an. Eine Sache wurde schon vorab angekündigt: Die Bundesregierung will zum 1. Januar 2026 einen Industriestrompreis einführen. Das ist besser als nichts. Aber es bleibt eine Second-Best-Lösung. Eigentlich müssen wir gucken, dass die Energiepreise in Deutschland runtergehen. Einer der Gründe, warum die in den letzten Jahren so massiv nach oben gegangen sind, ist, dass man bei fossilen Brennstoffen nicht mehr den billigsten Anbieter am Markt nimmt – das ist Russland. Stattdessen kauft man Öl und Gas teurer woanders ein. Hier liegt eine der Ursachen für die Krise in der Stahlbranche.
Auf dem Gipfel soll auch über Zölle gesprochen werden. Der Hintergrund ist, dass China den Markt mit Billigstahl flutet, mit dem die deutsche und europäische Industrie nicht mithalten kann. Deswegen fordern viele CDUler gerade von der Bundesregierung, den Weg für Zölle auf EU-Ebene freizumachen. Die Rede ist von bis zu 50 Prozent ab einer gewissen Importschwelle. Halten Sie das für einen guten Weg?
Wenn man ein strategisches Interesse an einer Grundstoffindustrie hat, macht es grundsätzlich Sinn, diese auch zu schützen. Allerdings warne ich davor, einem Handelskonflikt mit China leichtfertig das Wort zu reden. Die Europäische Union ist in letzter Zeit den USA blindlings in zwei Wirtschaftskonflikte gefolgt: einmal mit Russland und einmal mit China. Ich erinnere daran, dass die Niederlande auf Druck der USA kürzlich den Chiphersteller Nexperia verstaatlicht haben, der zum chinesischen Konzern Wingtech gehört. Im Zweifel stehen bei Volkswagen die Förderbänder still, weil die Halbleiter aus China fehlen. Parallel einigen sich die USA gerade mit China, und Europa hat das Nachsehen. Deswegen müssen wir aus diesem Muster raus und eine souveräne, eigenständige Außenpolitik machen. Und ja, zu der kann gehören, im Interesse der eigenen Industrie Schutzzölle zu erheben.
Was haben Sie sonst noch für Ideen, die deutsche Stahlindustrie zu retten?
Die CO₂-Bepreisung wird jetzt scharfgestellt, die Zertifikate verknappt und die Preise steigen. Das hat zur Folge, dass die Produktionsweise, mit der Stahl in Deutschland mehrheitlich hergestellt wird, sich mittelfristig wirtschaftlich nicht mehr lohnen wird. Wir sehen das Instrument einer CO₂-Bepreisung kritisch: Wenn man eh schon in einer Energiepreiskrise steckt, sollte man die Preise nicht künstlich erhöhen, um die Gesellschaft zu erziehen – besser wäre eine direkte staatliche Ordnungspolitik. Wenn es aber dabei bleibt, muss man auf grünen Stahl umstellen. Aber das benötigt große Investitionssummen, die die Firmen teilweise kaum aufbringen können. Hier braucht es einen Industriefonds – die saarländische Stahlstiftung kann dafür ein Vorbild sein. Klar muss auch sein, dass Managergehälter und Dividenden gedeckelt werden müssen, wenn öffentliches Geld fließt. Außerdem braucht es auf dem Weg einen CO₂-Grenzausgleich. Das sind CO₂-Steuern auf importierten Stahl.
In Duisburg werden neue Brücken mit Stahl aus China gebaut. Das kann man natürlich keinem Menschen erklären!
Die IG Metall hat noch eine andere Idee: Sie fordert Vorgaben für die Verwendung von heimischem Stahl – und zwar nicht nur bei öffentlichen Aufträgen. Halten Sie das für einen guten Ansatz?
Ja, grundsätzlich macht das Sinn. Insbesondere wenn öffentliches Geld im Spiel ist, um die Stahlindustrie zu fördern. Es gibt so absurde Situationen, wie dass in Duisburg neue Brücken mit Stahl aus China gebaut werden. Das kann man natürlich keinem Menschen erklären! Das ist auch ökonomisch nicht sinnvoll.
SPD-Finanzminister Lars Klingbeil hat gerade ein „vollständiges Ende aller Stahlimporte aus Russland“ gefordert. Was haben Sie gedacht, als Sie das gelesen haben?
Wir sind ja durchaus dafür, die heimische Stahlindustrie zu schützen. Aber wenn Herr Klingbeil wirklich etwas für die heimische Stahlindustrie machen will, sollte er lieber öffentliches Geld in Form von Industriefonds bereitstellen. Mit dem könnte der Umbau der Industrie finanziert werden, sodass die Arbeitsplätze langfristig sicher sind. Das ist etwas, was die Stahlarbeiter seit Jahr und Tag auf der Straße fordern. Und man bräuchte nicht wieder einen Gipfel im Kanzleramt, um auf diese Idee zu kommen.
Reden wir noch über die Zukunft des BSW. Im Dezember findet in Magdeburg der Bundesparteitag statt. Derzeit wird viel darüber diskutiert, ob Sahra Wagenknecht noch einmal als Vorsitzende antritt. Gibt es da News?
Ich hätte ja gerne exklusive News für Sie. Aber meine Antwort lautet: Wir werden uns dazu in einem geordneten Verfahren zu gegebener Zeit äußern.
Vielleicht steht der neue Parteiname schon fest, wenn dieses Interview veröffentlicht wird
Treten Sie womöglich selbst für den Parteivorsitz an?
Nein. Ich werde mich die Tage zu meiner künftigen Rolle äußern.
Was festzustehen scheint: Der Name der Partei soll sich ändern. In den vergangenen Wochen konnten die Mitglieder Vorschläge einreichen, wofür das Kürzel „BSW“ künftig stehen soll. „Bockwurst statt Waffen“ lautete einer der Vorschläge. Was ist Ihr Lieblingsvorschlag?
(Lacht) Ja, da war eine Reihe von kreativen Vorschlägen dabei! An der Vielzahl der Einreichungen hat man gesehen, dass sich viele Gedanken gemacht haben. Am Ende wird es auf eine salomonische Lösung hinauslaufen, und mit der werden wir zeitnah an die Öffentlichkeit gehen. Vielleicht sogar schon, wenn dieses Interview veröffentlicht wird …
Das BSW liegt in Umfragen beharrlich bei vier Prozent. Wo bleibt der Aufschwung?
Für eine neu gegründete Partei, die es nicht einmal zwei Jahre gibt, sind die Umfragewerte erfreulich stabil. Das zeigt, dass tatsächlich eine Leerstelle im deutschen Parteiensystem existiert. Viele Menschen, die wütend sind über die Entwicklung der Politik, wenden sich der AfD zu. Aber es gibt einen Teil, der gemerkt hat, dass die AfD eine Wirtschafts- und Sozialpolitik wie CDU und FDP betreibt und dass diese Partei auch in friedenspolitischen Fragen auf der falschen Seite steht. Das erklärt, warum wir – trotz des jungen Alters und der Tatsache, dass wir aktuell nicht im Bundestag vertreten sind – noch immer bei vier Prozent stehen.
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Apropos Bundestag: Das BSW ist im Februar maximal knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert. Weil es nachweislich zu Fehlern kam, fordern Sie eine Neuauszählung. Haben Sie die Hoffnung, dass über diese Frage bis Ende des Jahres beschieden sein wird?
Wir fordern, dass es eine schnelle Entscheidung gibt. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hat eine Verschleppungstaktik angewendet. Ist ja auch klar: Alle dort vertretenen Parteien wären negativ davon betroffen, wenn das BSW in den Bundestag käme. Allerdings ist der Ausschuss jetzt in einer Zwickmühle: Obwohl die Abgeordneten aus politischen Gründen kein Interesse daran haben, dass das BSW in den Bundestag einzieht und die Mehrheitsverhältnisse für die Merz-Regierung kippen, ist es doch so: Wenn sie unser Anliegen ablehnen und sich gegen eine Neuauszählung entscheiden, werden wir – so sicher wie das Amen in der Kirche – vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Und Karlsruhe hat Anfang der 1990er Jahre in einem ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass eine komplette Neuauszählung geboten ist. Da ging es um ein Direktmandat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Da war die Frage: Hat der SPD- oder der CDU-Abgeordnete gewonnen? Also wurde der komplette Wahlkreis neu ausgezählt. Und damals gab es deutlich weniger systematische Fehler als bei der letzten Bundestagswahl. Generell ging es nämlich „nur“ um ein Landtagsmandat. Bei uns geht es um eine ganze Bundestagsfraktion und die Frage, ob die Bundesregierung eine Mehrheit hat. Wenn das Bundesverfassungsgericht seiner eigenen Rechtsprechung folgt, müsste neu ausgezählt werden.
Glauben Sie wirklich daran, dass Sie bald im Bundestag sitzen werden?
Ich halte das durchaus für realistisch. Natürlich wäre das eine hochnotpeinliche Situation für alle selbst erklärten demokratischen Parteien, sollten die sich im Bundestag gegen eine Neuauszählung entscheiden. Sie hätten damit dem Glauben an die Demokratie und an die Legitimität von Wahlen einen Bärendienst erwiesen – und das nur, weil sie ihren Egoismus über eine demokratische Grundhaltung gestellt haben.
Christian Leye (geboren 1981 in Bochum) ist ein deutscher Politiker (BSW; zuvor Die Linke). Von 2021 bis 2025 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit der Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht am 8. Januar 2024 bekleidet er das Amt des Generalsekretärs.LesenSie hier ein Freitag-Interview mit Leye aus dem Jahr 2023.