Chinesische Medizin: Das unglaubliche Corona-Wunder

Aus der Serie: Lu erklärt China

China hat die Pandemie im eigenen Land für beendet erklärt. Eine im Westen wenig beachtete Rolle bei der Regierungspropaganda spielte traditionelle chinesische Medizin.

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Chinesische Medizin

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Die Einnahme des vermeintlichen Wundermittels Lianhua Qingwen war in manchen Städten während der Pandemie verpflichtend, im Bild links sieht man, wie ein Mann einer älteren Frau in Shanghai im April 2022 dabei hilft. Rechts: ein Bild aus den Lockdown-Tagen in Peking im Mai 2022

Das unglaubliche Corona-Wunder – Seite 1

Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

Seit einigen Wochen ist das Thema Covid-19 aus den chinesischen Medien geradezu verschwunden. Mitte Februar verkündete die Staatsführung schlicht ihren „Sieg“ über das Virus und außerdem die angeblich niedrigste Covid-19-Sterblichkeit weltweit; Todeszahlen jedoch wurden zunächst keine genannt. Doch auch auf Social Media wird die Pandemie in China kaum mehr besprochen, und das ist doch einigermaßen verblüffend und hat nur zum Teil mit der Zensur zu tun. Die chinesische Gesellschaft scheint auch von sich aus bemüht zu sein, die traumatischen Erfahrungen hinter sich zu lassen, die erst die strikten Lockdowns und nach der abrupten Kehrtwende der Corona-Politik von Null-Covid auf totale Öffnung dann die massenhafte Ausbreitung des Virus in China für viele Menschen bedeutet haben müssen. Die Leute wollen offenbar ins normale Leben zurückkehren. China strebt vorwärts und schaut nicht zurück. Das hat das Land im 20. Jahrhundert immer wieder so gehalten, das tut es augenscheinlich auch jetzt im 21. Jahrhundert.

Es bleiben dennoch viele offene Fragen zur Pandemie. Eine davon ist im Westen bisher kaum beachtet worden: Hat die traditionelle chinesische Medizin (TCM), von der Regierung in Peking als Covid-Allheilmittel gepriesen, am Ende wirklich funktioniert?

In China ist das vor allem eine ideologische, politische und ökonomische Frage, eher keine virologische, und die Antworten haben wenig mit wissenschaftlichen Nachweisen der Wirksamkeit von Arzneimitteln zu tun. Denn es gibt keine entsprechenden seriösen klinischen Studien, die die für TCM-Präparate nachgewiesen hätte, etwa bei der Behandlung von Corona. Die chinesische Regierung und der Teil der Bevölkerung, der besonders patriotisch gestimmt ist, betrachten die TCM jedoch als nationale Errungenschaft und erlauben nicht den geringsten Zweifel an ihrer Wirksamkeit. Eine Minderheit kritisch gesinnter Bürgerinnen und Bürgern vor allem in den Großstädten halten die traditionelle chinesische Medizin hingegen für Quacksalbertum und daher letztlich für Betrug. Eine dritte Gruppe dazwischen zieht es vor, sich neutral zu verhalten. Stellt man die Frage, wie man es mit TCM hält, also bei einem Abendessen unter Chinesinnen und Chinesen, entzündet sich mit einiger Sicherheit heftiger Streit (und der Abend ist ruiniert).

Um nun auch die soziale, politische und kulturelle Komplexität der TCM-Frage zu verstehen, hilft vielleicht der exemplarische Blick auf ein im Westen nahezu unbekanntes Präparat namens Lianhua Qingwen. In den drei Jahren des Kampfs gegen Covid-19 hatte die chinesische Regierung zwei Dinge recht exklusiv für sich: die harschesten Lockdown-Maßnahmen und die Lianhua-Qingwen-Kapseln. Lianhua Qingwen ist ein chinesisches Patentmedikament (CPM), das ursprünglich zur Behandlung von SARS-Patienten entwickelt worden war und 2004 eine Zulassung auf dem chinesischen Markt bekam zur Bekämpfung von Grippesymptomen. Chinesische Patentmedizin besteht aus modernisierten Versionen der traditionellen chinesischen Medizin, man bekommt sie in Form etwa von Tabletten, oral einzunehmenden Lösungen oder Suspensionen. Man muss also keine Kräuter mehr aufkochen.

Nachdem die Pandemie ausgebrochen war, hat die Nationale Gesundheitskommission Chinas Anfang 2020 Lianhua Qingwen zur „Prävention und Behandlung“ des Virus empfohlen, das Präparat sollte angeblich das Ansteckungsrisiko vermindern und bei doch erfolgter Covid-Infektion die Symptome in den Atemwegen und der Lunge lindern. Die chinesische Regierung hat die Einnahme des Präparats bald offensiv beworben.

Seit drei Jahren wird Lianhua Qingwen nun im großen Maßstab in chinesischen Kommunen verteilt und von Ärzten verschrieben. Während der Lockdowns war die tägliche Einnahme von TCM und speziell Lianhua Qingwen in manchen Städten sogar verpflichtend. Man bekam die Medikamente zugeteilt, musste sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einnehmen, ein Video davon machen und dies dann zum Beweis an die Bezirksverwaltung schicken. In der Folge ist der Umsatz des Lianhua-Qingwen-Produzenten Yiling Pharmaceutical von 2019 auf 2020 um 150 Prozent gestiegen auf 8,78 Milliarden Yuan (umgerechnet 1,26 Milliarden US-Dollar), fast die Hälfte davon entfiel auf den Verkauf von Lianhua Qingwen (4,26 Milliarden Yuan oder 613 Millionen Dollar). Im Jahr 2021 machte Yiling einen Umsatz von umgerechnet 1,53 Milliarden US-Dollar, 622,8 Millionen davon allein mit Lianhua Qingwen, das, so verkündete es der Hersteller, nunmehr meistverkaufte TCM-Präparat zur Behandlung von Erkältungskrankheiten in China.

Die Wirksamkeit von Lianhua Qingwen wird jedoch von Expertinnen und Experten inner- und außerhalb Chinas stark bezweifelt. Und während die chinesischen Communitys und die Botschaften die „Spezialeffektmedizin“ in ihren Gastländern zu verbreiten versuchten, blieben die bei ihren Zweifeln. Nur in wenigen Ländern außer China ist Lianhua Qingwen offiziell zugelassen, so etwa in Kambodscha und einigen afrikanischen Staaten wie Liberia und Kenia. Singapur hat die Bewerbung des Mittels zur Behandlung von Corona verboten, in den USA, Kanada und Australien ist es als solches nicht zugelassen. Die US-Arzneimittelbehörde FDA führt Lianhua Qingwen gar auf ihrer Liste der „Fraudulent Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) Products„, also der betrügerischen Produkte zur Behandlung von Corona-Infektionen. In Deutschland sind Lianhua-Qingwen-Kapseln nicht offiziell erhältlich.

Von ganz oben protegiert

Links: die Produktion von Lianhua Qingwen bei Yiling Pharmaceutical in Peking. Rechts: Shanghai im Lockdown im April 2022

Auch in China selbst haben zunächst viele Ärzte und Expertinnen gegen die Verschreibung und Gabe von Lianhua Qingwen Bedenken geäußert. Aber diese wurden schnell von der großen Zahl der TCM-Anhänger attackiert, entsprechende Negativaussagen zu dem angeblichen Heilmittel wurden von der Regierung zensiert. Ein prominenter Fall war im April 2022 der Social-Media-Influencer Wang Sicong, der damals Millionen von Followern auf Weibo hatte: Er stellte die Wirksamkeit der Kapseln infrage und griff die Stadtregierung von Shanghai an, sie verschwende für die Verteilung der wirkungslosen Medizin eine Menge Ressourcen. Wang ist zugleich der Sohn eines der reichsten Männer Chinas, des Immobilien-Tycoons Wang Jianlin. Das nützte ihm alles nichts, als es um Lianhua Qingwen ging: Erst wurde sein Post heftig kritisiert, dann gelöscht. Wangs Weibo-Account selbst wurde suspendiert, darauf gleichfalls gelöscht. Über seinen Wechat-Account durfte er keine Posts mehr veröffentlichen, der Zugang zu Gruppenchats wurde gesperrt. Dennoch brach der Aktienkurs des Herstellers Yiling vorübergehend ein, denn erstmals gab es auch in China leise Zweifel an der Wirksamkeit des Mittels. Doch heute kommt es kaum noch vor, dass offizielle Medien Berichte veröffentlichen, die die Wirksamkeit der TCM hinterfragen. Lianhua Qingwen wird von ganz oben protegiert.

Dieses „Oben“ beginnt bei Präsident Xi Jinping, der die TCM wiederholt als Chinas Schatz bezeichnet hat und fordert, dass ihr Einsatz forciert werden solle. Xi ist da keine Ausnahme, fast alle kommunistischen Anführer Chinas haben die Verbreitung von TCM in der Vergangenheit gefördert. Es gibt einen praktischen Grund dafür: Eine moderne pharmazeutische Industrie gab es früher nicht in China, und ein entsprechendes Gesundheitssystem war in den ersten 50 Jahren der kommunistischen Parteiherrschaft einfach zu teuer. Die Herstellung von TCM war stets deutlich günstiger als der Import oder Lizenzierung westlicher Medikamente, und die Einnahme und Benutzung von TCM boten denjenigen Kranken, die keinen Zugang zu herkömmlichen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden hatten, zumindest Trost: Etwas wurde getan gegen ihre Erkrankungen. Der einstige Leibarzt Mao Zedongs hat einmal verraten, dass Mao selbst selten TCM nutzte, aber unterstützt hat der große Anführer ihre weitere Popularisierung in China doch. Bei seinen Nachfolgern sah es ähnlich aus, auch wenn sie sich meistens von den besten im Westen ausgebildeten Ärzten behandeln ließen.

TCM ist auch nicht einfach Medizin, sie steht in einer kulturellen und politischen Tradition. Die Theorien, mit denen TCM unterfüttert sind, sind mit vielen Werten und Überzeugungen verbunden, die das Fundament der traditionellen konfuzianischen Gesellschaft Chinas bilden. 

Yin und Yang

Das Konzept von „Yin“ und „Yang“ und der Beziehungen zwischen beiden ist eine zentrale Säule der Theorien hinter TCM. Es definiert aber auch die Machtstruktur zwischen Männern und Frauen. Männer (Yang) gelten als die warme, aggressive, tapfere und positive Existenzform, Frauen (Yin) hingegen als die kalte, sanfte, schwache und negative. Erkrankt jemand, dann liegt es angeblich oft daran, dass zu viel Yin in den Körper gelangt ist. Yang seinerseits kann allerdings zu viel „Feuer“ mitbringen und auf diese Weise Probleme verursachen, aber das gilt dann häufig als weniger gefährlich. Die „Yang-Sphäre“ ist unsere Welt. Die „Yin-Sphäre“ ist die Unterwelt, hier hat die Hölle ihren Ort. Yang sollte oben sein, Yin unten. Die Verkehrung dieser Ordnung würde das ganze Universum in Chaos stürzen. Sie zöge Katastrophen auf allen Ebenen nach sich, von der Familie bis zur Nation.

Diese Metaphern sind keine literarischen, sie manifestieren sich auch in der Kultur und der Politik. Das Qi des Yang (Yang Gang Zhi Qi) zu bewahren, ist so wichtig, dass die Regierung der Unterhaltungsindustrie den Befehl erteilt, mehr davon zu zeigen. Dazu gehört auch das Verbot genderneutraler Figuren in den offiziellen Fernsehsendern und in Propagandafilmen. Die Regierung ist dermaßen yang, dass sich keine einzige Frau in ihren oberen Rängen findet, nämlich im Ständigen Ausschuss der Kommunistischen Partei Chinas. Wie die Partei, so sieht es jedoch auch das Volk: Nirgends auf der Welt werden weniger Mädchen geboren. Die ganze Gesellschaft betrachtet Frauen weiterhin als weniger wertvoll, und die TCM-Theorien spielen dabei unbewusst eine wichtige Rolle.

Über den Theorieunterbau der patriarchalen Ordnung hinaus stärkt die TCM die chinesische Abwehrhaltung gegen alles von außen. Als der US-Hersteller Pfizer – mit dem BioNTech in Deutschland eine der Impfungen gegen Covid entwickelt hat – das Corona-Medikament Paxlovid auf den Markt brachte, gab es ein unglaubliches Phänomen in den sozialen Medien Chinas: Viele TCM-Verteidiger, oft auch Internettrolle, beschimpften diejenigen, die über das neue Medikament berichteten, als „Schoßhunde der Vereinigten Staaten“. Ein solcher Hass auf ein klinisch erwiesen wirksames Arzneimittel lässt sich nur aus der Perspektive des verletzten Nationalstolzes erklären. Medikamente werden wie überhaupt medizinische Neuentwicklungen geradezu Teil eines größeren Duells Chinas gegen den Westen: Lianhua-Qingwen-Kapsel gegen Paxlovid, das chinesische Impfpräparat Sinovac gegen BioNTech und Moderna. Lianhua Qingwen verlor sein Duell, Sinovac auch.

Verlorener Wettkampf

Im dramatisch verlaufenden Januar 2023, nach der plötzlichen Aufhebung aller Pandemie-Kontrollmaßnahmen in China, erlebte die chinesische Pharmaindustrie dann auch entsprechende Turbulenzen. Als das Virus durch das Land jagte, gab es erst einen Mangel an Medikamenten schlechthin, dann einen scharfen Wettkampf zwischen der chinesischen Patentmedizin und westlichen Pharmaprodukten. Anfang Januar lagen die Verkäufe von Lianhua Qingwen noch auf dem ersten Platz, am Ende des Monats fand man alle CPM-Medikamente am Ende der Liste. Die größten Bestseller waren plötzlich Ibuprofen und Paxlovid. Die Verkäufe von Lianhua Qingwen hatten sich nahezu halbiert, und das galt auch für den Preis der Aktie ihres Produzenten Yiling Pharmaceutical.

Das Scheitern der TCM in diesem Wettkampf war vorhersehbar für diejenigen, die sich ein wenig mit der Arzneimittelregulierung in China auskennen. Wie das chinesische Medium TCM News im vergangenen Jahr berichtete, hatte die Entwicklung der Wundermedizin Lianhua Qingwen Anfang der Nullerjahre nicht mehr als ebenso wundersame 15 Tage gedauert. Diese Information sorgte nun im ganzen Land für Empörung. Yiling Pharmaceutical dementierte gleich und behauptete, die erste Entwicklungsphase habe drei Monate in Anspruch genommen (noch immer eine geradezu absurd kurze Zeit). Allerdings habe es zu dem Zeitpunkt der klinischen Erprobung Anfang der Nullerjahre nicht mehr genügend SARS-Patienten gegeben, sodass das Medikament stattdessen damals an Grippepatienten getestet worden sei. Nach einem Jahr sei es dann in China zugelassen worden. 

Die schnelle Marktreife von Lianhua Qingwen ist so außergewöhnlich allerdings nicht, denn die CPM-Regeln sind im Vergleich zu denen zur Zulassung westlicher Pharmazeutika recht willkürlich. Für eine klinische Studie (wenn es überhaupt eine gibt) braucht es nicht immer eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe. Und selbst wenn es solche Gruppen gibt, ist die Sammlung und Prüfung der Daten nicht so strikt geregelt, wie man es von westlichen Medikamentenstudien kennt. Lange, nämlich bis zum vergangenen November, konnten chinesische Patentmedikamente auf den Markt kommen, ohne dass Nebenwirkungen angegeben wurden. In den Beipackzetteln liest man häufig einfach: „Nebenwirkungen: unklar“.

Im vergangenen November hat die Nationale Verwaltung für medizinische Produkte Chinas immerhin neue Regularien erlassen, die diese Nonchalance unterbinden. Dennoch ist das Überspringen der klinischen Studien in vielen Fällen weiter möglich. Wenn zum Beispiel das Medikament „in hinreichendem Umfang“ am Menschen erprobt ist, oder wenn das Rezept berühmten klassischen TCM-Vorschriften entspricht. Und nicht nur können die klinischen Studien wegfallen, die Firmen dürfen sich sogar erlauben, die Forschungsergebnisse und andere wesentliche Herstellungsdetails auf Beipackzetteln wegzulassen. Aufgrund der unzureichenden Regelungen werden bis heute viele schwerwiegende Nebenwirkungen von TCM nicht verzeichnet.

So endete nun offiziell die Pandemie in dem Land, von dem sie ursprünglich ausging, nicht nur ohne eine offizielle Zahl derjenigen Menschen, die an oder mit Covid gestorben sind; sie endete auch ohne einen Nachweis, dass das zeitweise in China populärste angebliche Medikament gegen Corona irgendeine präventive oder heilende Wirkung hatte: Lianhua-Qingwen-Kapseln. Manche Journalistinnen und Journalisten kämpfen in China weiter darum, herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist. Aber die offiziellen Medien dort wagen es nicht, die wahren Zahlen und Fakten zu veröffentlichen.

Der Sieg Chinas über das Virus ist nun einmal verkündet. Und es ist selbstverständlich allein der starken und weisen chinesischen Regierung und der traditionellen chinesischen Medizin zu verdanken, dass dieser Sieg errungen wurde. Mehr muss man nach Willen der kommunistischen Führung in China nicht über Covid-19 wissen. Falls irgendjemand zukünftig doch einmal zurückschauen und nicht nur immer weiter nach vorn streben möchte.