Charles III. in Deutschland: Bei den schwierigen Verwandten
Wenn der neue britische Monarch am Mittwoch mit Königin Camilla seinen ersten Staatsbesuch in Deutschland antritt, wird mehr als ein halbes Jahrhundert seit der historischen Visite seiner Mutter im Mai 1965 vergangen sein. Für das aus dem langen Schatten der Hitlerzeit tretende Gastland markierte der Besuch nach den Worten des SPD-Politikers Carlo Schmid „das Ende vom Status der geächteten Nation“. Ob sich Charles III. noch an das Briefmarkenalbum erinnert, das Bundespräsident Lübke den Eltern als Geschenk für den damals sechzehn Jahre alten Kronprinzen mitgab, wohl in der Annahme, dieser möge die philatelistische Passion seines Großvaters und seines Urgroßvaters geerbt haben?
König Charles’ Vorlieben haben sich jedoch in andere Richtungen entwickelt, von denen insbesondere das bei ihm früh gekeimte Engagement für Umwelt und Nachhaltigkeit im Programm seines Deutschland-Aufenthalts seinen Niederschlag finden wird. Charles selbst ist in offizieller oder privater Eigenschaft mehr als vierzigmal in Deutschland gewesen, weit öfter als seine Mutter. Sie stattete der Bundesrepublik nach der das Eis brechenden elftägigen Versöhnungsreise durch acht der elf Bundesländer neben vier weiteren Staatsbesuchen allerdings noch einige weniger aufwendige Besuche ab, darunter im Jahr 2000 zur Einweihung der nach dem Mauerfall an ihren alten Standort an der Wilhelmstraße zurückgekehrten britischen Botschaft in Berlin. Jeder dieser Besuche markierte eine weitere Etappe im langen Prozess der Normalisierung der deutsch-britischen Beziehungen im Wechsel der politischen Gezeiten.
In den jeweils äußerst bedächtig ausgearbeiteten Programmen spiegelt sich auch der allmähliche Wandel der Wahrnehmung Deutschlands in Großbritannien. Aus Rücksicht gegenüber der feindseligen öffentlichen Meinung war der erste Staatsbesuch nach dem Zweiten Weltkrieg bis an die Grenze der diplomatischen Höflichkeit hinausgezögert worden. Sieben Jahre vergingen, nachdem der erste Bundespräsident Theodor Heuss den Worten des Labour-Politikers Richard Crossman zufolge mit „kühler Höflichkeit“ über Empfindungen „zwischen frostiger Gleichgültigkeit und brennender Feindseligkeit“ in England empfangen worden war, bis der Besuch von der Königin erwidert wurde. Ihre Erwähnung der engen Verbindungen des britischen Königshauses „mit den alten deutschen Staaten“ beim Festbankett im Buckingham-Palast zu Ehren des Präsidenten war missbilligend als „enthusiastische persönliche Identifizierung“ mit Deutschland registriert worden.
Versteckte Abneigung und purer Hass
Im Briefwechsel des ehemaligen Diplomaten Harold Nicolson, der Ende der Zwanzigerjahre Botschaftsrat in Berlin gewesen war, mit seiner Frau, der Schriftstellerin Vita Sackville-West, kommt dieser verbreitete Affekt zum Vorschein. Als Nicolson anlässlich des Heuss-Besuchs das Große Verdienstkreuz verliehen bekam, schrieb er seiner Frau, dass er sich vorstelle, wie sie ihre alte Schallplatte mit dem Refrain aufgelegt hätte, „ich kann nicht verstehen, wie du überhaupt Orden von diesen scheußlichen Leuten entgegennehmen kannst, die uns zerstören wollten“. Vita Sackville-West reagierte erwartungsgemäß. Sie bedauerte, dass ihr Mann „die blutbefleckten Hände von Deutschen in London“ schüttelte. Der streitbare Journalist Peregrine Worsthorne sprach es unverblümt aus: Die Nation könne „‚Fritz‘ einfach nicht ausstehen“.
Selbst bei einem der deutschen Kultur zutiefst verbundenen Schriftsteller wie John le Carré, der zu Beginn der Sechzigerjahre in Diplomatentarnung für den britischen Geheimdienst in Bonn auf Posten war, hatte der Krieg starke Vorbehalte gegen die Deutschen hinterlassen. In „Der Spion der aus der Kälte kam“, der zwei Jahre vor dem Deutschlandbesuch der Königin zum Bestseller wurde, machte er seinem Widerwillen gegen die Weiterbeschäftigung früherer Nationalsozialisten in vielen Ämtern Luft. Jahre später erinnerte er sich in einem Vorwort zu einer Neuauflage seines 1968 erschienenen Romans „Eine kleine Stadt in Deutschland“, in dem es um die damals befürchtete Wiederbelebung des Rechtsextremismus geht, an die britische Botschaft in Bonn als einer Bastion englischer Deutschlandphobien. Le Carré schilderte die Schizophrenie, die durch das Einhergehen der fortdauernden Selbstwahrnehmung Großbritanniens als Siegernation des Zweiten Weltkriegs mit der „viel bescheideneren und realistischeren Rolle als Bittstellerin um deutsche Unterstützung“ für den verspäteten Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erzeugt habe. Mit der deutsch-britischen Versöhnung und dem bundesrepublikanischen Buhlen um britischen Beistand für die Wiedervereinigung waren die britischen Ansinnen in Bezug auf Europa denn auch jahrzehntelang die Triebfedern für die Einspannung der sanften Macht der Monarchie.
Fünfzig Jahre ohne britischen Besuch
Als die Königin 1965 kam, hatte seit 1913 kein britischer Monarch deutschen Boden betreten. Der letzte Staatsbesuch hatte im Februar 1909 stattgefunden. Vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen durch das deutsche Flottenrüsten und die bosnische Annexionskrise war der bereits schwerkranke Eduard VII. auf das Geheiß des Außenministers Edward Grey mit seiner die Deutschen allgemein und ihren Vetter Wilhelm II. insbesondere hassenden Königsgemahlin Alexandra nach Berlin gereist. Alexandra machte keinen Hehl aus ihrem Unmut. Der Frau des Premierministers Asquith berichtete sie, dass sie nie nach Berlin habe reisen wollen. Man habe sie gezwungen, und es sei ein kompletter Misserfolg gewesen. Eduard VII. zog das Fazit, dass Großbritannien Deutschland „ohne Zweifel als unseren bittersten Feind“ betrachten könne.
Als sein Sohn Georg V. im Mai 1913 der Hochzeit von Prinzessin Viktoria Luise, dem jüngsten Kind des Kaisers, mit dem Welfenprinzen Ernst August beiwohnen wollte, hatten die diplomatischen Beziehungen einen solchen Tiefpunkt erreicht, dass Grey von einem Staatsbesuch abriet. Der Großonkel der Braut nahm mit seiner Frau privat an den familiären Festivitäten teil, zu denen sich die gekrönte europäische Verwandtschaft ein letztes Mal vor dem Ersten Weltkrieg versammelte. Wie der „Berliner Lokalanzeiger“ berichtete, bildete das Publikum bei der Ankunft des britischen Königspaares dennoch in dichten Reihen Spalier und begrüßte die Gäste auf der Fahrt vom Lehrter Bahnhof zum Schloss „mit Hoch- und Hurra-Rufen in lebhaftester Weise“, sehr zur Missbilligung der linken Presse.
Es sollte der letzte Besuch eines britischen Monarchen auf deutschem Boden sein, bis die Enkelin von „Grandpa England“, wie Elisabeth II. ihren Großvater nannte, 52 Jahre später fast auf den Tag am Flughafen Wahn von Bundespräsident Lübke und dem gesamten Kabinett empfangen wurde. Zum Feuerwerksspektakel, das die niedersächsische Landesregierung einige Tage später auf dem Schloss Herrenhausen der hannoverschen Vorfahren des Staatsgastes ausrichtete, war auch die einstige Preußen-Braut, die inzwischen verwitwete, 72 Jahre alte Kaisertochter Viktoria Luise, Herzogin zu Braunschweig-Lüneburg, geladen. „Es ist lange her“, bemerkte die Königin bei der kurzen Begegnung mit ihrer Verwandten, die Unterbrechung mit lapidarem Understatement auf den Punkt bringend.
Damals bezeichnete die „Times“ die deutsch-britischen Beziehungen als „Treibsand alter Liebe und des Hasses, von Missverständnissen, bitteren Erinnerungen und missgünstigem Respekt, erschwert durch Britanniens ambivalentes Verhältnis zu Europa insgesamt“. Die Zeit, aber auch Bemühungen abseits der hohen Politik, angefangen mit dem deutsch-britischen Austausch in der Tagungsstätte Wilton Park, einem ehemaligen Umerziehungslager für deutsche Kriegsgefangene, sowie den Städtepartnerschaften und den jährlichen Königswinter-Tagungen haben zur Entspannung beigetragen.
Deutsche Schüler, die nach England kommen, werden nicht mehr wie einst automatisch als „Nazis“ gehänselt; im Geschichtsunterricht dominieren zwar immer noch Tudors und Nationalsozialisten; aber die britische Presse, die bis in die Neunzigerjahre keine Gelegenheit ausließ, Stereotype des bösen Deutschen zu verwenden, die 1990 auf der berühmten Liste beim Historiker-Treffen mit Margaret Thatcher über die Gefahren der deutschen Einheit gebündelt waren, sieht von diesen groben Sticheleien längst ab. Neil MacGregors Ausstellung und BBC-Serie „Deutschland, Erinnerung einer Nation“ vor fast zehn Jahren zeugen ebenso wie das erstarkte verlegerische Interesse an deutscher Literatur – und nicht nur nationalsozialistischer Geschichte – von einem vorurteilsfreieren Zugang. Dieser Tage sind zwei Titel überaus wohlwollend von der Kritik aufgenommen worden, die sich mit der ehemaligen DDR befassen: Brigitte Reimanns in der Klassiker-Serie des Penguin-Verlags veröffentlichter Roman „Die Geschwister“ und „Beyond the Wall“, die Geschichte Ostdeutschlands in den Jahren der Teilung, erzählt von der Historikerin Katya Hoyer, die mit dem Berliner „Times“-Korrespondenten Oliver Moody auch den Podcast „The New Germany“ präsentiert.
Bezeichnend für die Entspannung sind die veränderten Nuancen im Umgang mit der Vergangenheit bei der Programmierung der königlichen Staatsbesuche. Die Visite von 1965 stand zwar im Zeichen der Versöhnung, es wurde auch viel von der Teilung gesprochen, doch waren die Jahre von 1933 bis 1945 der Elefant im Raum. In Bonn legte die Königin einen Kranz an dem absichtlich allgemein gehaltenen Ehrenmal für die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft nieder. Und in Berlin warf sie am Brandenburger Tor ihren ersten Blick auf das kommunistische Europa. Nach der von Basil Fawlty ausgerufenen, aber nicht eingehaltenen Devise „Don’t mention the war“ knüpfte sie mit einer „empfindsamen Reise“ auf den Spuren Königin Viktorias und dem die Franzosen empörenden Gedenken an den Rheinübergang Blüchers auf dem Weg zum Sieg gegen Napoleon bei Waterloo eher an die alten historischen und familiären Verbindungen an, welche die Windsors auf persönlicher Ebene stets aufrechterhalten haben.
Erst bei anschließenden Besuchen wurden die das Verhältnis überschattenden „grausamen Verwerfungen“, von denen Charles III. – damals noch als Prinz von Wales – 2020 im Bundestag sprach, ausdrücklicher erwähnt und wurde das Leiden auf beiden Seiten in der Symbolik des Gedenkens hervorgehoben. So wie seine Mutter 1992 in dem bei den alliierten Angriffen zerstörten Dresden einem Versöhnungsgottesdienst beiwohnte, werden Charles III. und der Bundespräsident am Freitag in Hamburg Kränze am Mahnmal St. Nikolai für die Opfer der Bombardierungen niederlegen. Dass die britischen Medien dem deutschen Staatsbesuch des Königs bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben, ist als weiteres Zeichen des Fortschritts zu deuten.
Source: faz.net