Challenge für deutsche Linke: Wer kann Palästina und Israel gleichzeitig sehen?
Natürlich hat Palästina genau diese Umrisse. From the river to the sea. So, wie auch Israel diese Umrisse hat. From the river to the sea.
Genau diese Umrisse hängen in israelischen Schulen und schweben in palästinensischen Träumen, sie sind auf Schlüsselanhänger geprägt und auf T-Shirts gedruckt, mal weiß-blau, mal grün-rot-weiß-schwarz, und nicht erst seit der vom Kulturstaatsminister Wolfram Weimer entdeckten Brust des Rappers Chefket. Dass diese Umrisse jetzt einen Skandal auslösten, ist lächerlich. Als hätte die deutsche Öffentlichkeit Jahrzehnte geschlafen. Nun ja: Das hat sie ja auch.
Wäre der Chefket-Eklat vor zehn oder zwanzig Jahren passiert, oder noch vor wenigen Monaten: Die Geschichte wäre hier zu Ende. Doch wir haben Herbst 2025, und die Dinge haben sich geändert. Sämtliche weiteren Musiker solidarisierten sich mit Chefket und sagten ihre Konzerte auf der Ausstellung von Jan Böhmermann ab. Aber was genau hat sich geändert?
Palästina zu sagen, galt in Deutschland als antisemitisch
Palästina existiert plötzlich für Teile der deutschen Öffentlichkeit. Palästina hat in Deutschland seit dem Moment eine Existenzberechtigung, als Benjamin Netanjahu sich nach dem 7. Oktober daran machte, die israelische Version der Karte tatsächlich durchzusetzen.
„An den Wänden unserer Klassenzimmer hing eine Karte von einem Land, das nicht existiert. Das ‚Land zwischen dem Fluss und dem Meer‘ war dort zu sehen, einschließlich des Westjordanlands, Ostjerusalems, des Gazastreifens und der Golanhöhen, als ein Staat. Ich habe mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht.“ Das schreibt der linke jüdische Autor Tomer Dotan-Dreyfus in seinem Buch Keinheimisch. Über dieses Israel vom Fluss bis ans Meer hat sich wohl niemand Gedanken gemacht – abgesehen von den Palästinensern. Und die waren in Deutschland bis zum Jahr 2025 so gut wie niemand.
Palästina zu sagen, galt in Deutschland als antisemitisch. Schon die Erwähnung Palästinas bot eine Perspektive auf Israel, die das Existenzrecht Israels infrage stellte. Denn Palästina war schon immer mehr als ein zersiedeltes Westjordanland unter Militärrecht und ein von der Welt abgeschnittener Gazastreifen. Auch nach der Nakba, der Vertreibung und Flucht von Hunderttausenden Palästinensern 1948, existierte Palästina selbstverständlich weiter als jenes Gebiet, das wir auf den T-Shirts sehen: als eigener Staat auf dem Gebiet vor der großen Vertreibung.
Palästina und Israel oder die Sehnsucht nach widerspruchslosem Sein
Es existierte so weiter in den Köpfen von Millionen Palästinensern auf der Welt, als Sehnsuchtsort, als Wunsch, als Heimat im Herzen. Das Absurde: Jenes freie Palästina, das auf Schlüsselanhänger geprägt und auf T-Shirts gedruckt wird, hat mit Israel an sich nichts zu tun. Das macht es ja gerade frei. Es geht nicht darum, wo Israel existiert, es geht erstmal nur darum, wie Palästina existiert. Die Umrisse dieses Palästinas stehen für den Wunsch, der Konflikt mit jüdischen Israelis auf eben diesem Territorium existiere bitte einfach nicht. Es ist die Sehnsucht nach widerspruchslosem Sein.
Es verhält sich nicht anders mit jenen Umrissen Israels, die Tomer Dreyfus aus israelischen Klassenzimmern beschreibt. Dieses Israel ist der Wunsch, es möge einen Heimatort für Jüdinnen und Juden weltweit geben, der sicher ist, frei von Verfolgung und Auslöschungsfantasien fanatischer Antisemiten überall auf der Welt. Es möge ein Israel geben, das ausschließlich Jüdinnen und Juden gehört, möge der Konflikt mit Palästinensern auf diesem Gebiet bitte einfach nicht mehr existieren. Es ist die Sehnsucht nach widerspruchslosem Sein.
Keine nichtjüdische nichtpalästinensische Person kann sich anmaßen, auch nur annähernd zu verstehen, wie wichtig diese Wünsche für diejenigen sind, die sie hegen. Es sind Wünsche, die in Enteignung, Blut und Vernichtung entstanden sind.
Palästinensisches Leben wurde mit Antisemitismus gleichgesetzt
Und doch haben sich die allermeisten Deutschen so verhalten, als hätten sie sich den Wunsch nach einem freien Israel selbst erkämpft, selbst erarbeitet, als hätten sie ihn irgendwie verdient. Nichtjüdische Deutsche haben sich jahrzehntelang das Recht herausgenommen, von diesem Israel zu träumen und so zu tun, als gäbe es die palästinensische Heimat auf eben diesem Gebiet nicht, und als wäre der palästinensische Traum an sich schon antisemitisch, als hätten die Palästinenser seit dem Holocaust kein Recht auf eigene Träume, sondern existierten nur in Bezug auf jüdisches Leben. Diese deutsche Haltung, die palästinensisches Leben mit Antisemitismus gleichsetzte, war schlicht menschenverachtend.
Es war Menschenverachtung, als Claudia Roth nach der Berlinale klarstellte, sie habe nur für den jüdischen, nicht aber für den palästinensischen Filmemacher geklatscht. Frau Roth klatscht nicht für Palästinenser? Es war Menschenverachtung, als der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant Palästinenser mit Tieren gleichsetzte und Deutschland nahezu gleichzeitig den beginnenden genozidalen Krieg zur Staatsräson machte. Es war Menschenverachtung, als palästinensische Flaggen von der Polizei eingezogen und ihre Träger festgenommen und als palästinensische Autorinnen von der Buchmesse in Frankfurt ausgeladen wurden.
Deutschland brauchte dieses Märchen: Dass es Erlösung gibt in diesem Konflikt, und dass das widerspruchslose Sein Israels diese Erlösung darstellt. Und für dieses Märchen brauchte Deutschland das Verdrängen Palästinas. Es gibt diese Kippbilder: Die einen sehen darin eine Ente, die anderen einen Hasen. Man kann, mit etwas Mühe, das Bild kippen – aber es scheint einem einzelnen Menschen ganz unmöglich, beides gleichzeitig auf dieser Karte erscheinen zu lassen. Immerzu kippt das Bild.
Israel und Palästina: Wer kann beides sehen, fühlen, verstehen?
Es war die israelische Soziologin Eva Illouz, die diesen Vergleich anstellte. „Kennen Sie diese Kippbilder, die mit optischer Täuschung spielen? Man sieht eine junge Frau oder eine alte Frau? Wenn man das eine sieht, kann man das andere nicht sehen“, sagt sie. Eva Illouz hat Erbarmen mit uns Menschen, stets überlegt sie, wieso wir so dermaßen beschränkt sind in unserer Wahrnehmung, und geht davon aus, dass wir nicht einfach dumm sein wollen.
Schlüsselanhänger mit den Umrissen Israels auf diesem Gebiet sind ok, Schlüsselanhänger mit den Umrissen Palästinas sind des Teufels? Womöglich sind wir nicht so bescheuert, wie wir wirken, sagt Illouz, womöglich können wir gar nicht anders.
„Wenn Sie die junge Frau sehen, können Sie die alte Frau nicht sehen. Nicht, weil Sie nicht wollen, sondern weil Sie nicht können: Das heißt, es ist für das Gehirn unmöglich, beide zusammen zu sehen. Das ist eigentlich die Operation, die wir durchführen müssen. Es geht darum, beide zusammen zu sehen. Wir müssen die Enteignung der Palästinenser sehen, und ihr Recht auf einen Staat, aber wir müssen auch sehen, dass Israel in einer höllischen Kriegslogik gefangen ist.“
Seit Jahrzehnten war es in Deutschland nicht möglich, beides zu sehen: ein Israel, das nach Jahrhunderten der Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Europa der einzige Rückzugsort geworden ist und gleichzeitig den Bedrohungen seiner Nachbarn ausgesetzt; und ein Palästina, das nach den Verbrechen des Nationalsozialismus, selbst schuldlos, eine Nakba erfuhr, deren Bevölkerung seit Generationen in riesigen Flüchtlingslagern lebt und die innerhalb Palästinas, in Gaza und im Westjordanland, jetzt dermaßen angegriffen wird, dass es in seiner Existenz bedroht ist. So richtig kann niemand von sich behaupten, wirklich beide Seiten zu sehen, zu fühlen, zu denken. Man würde vielleicht verrückt.
Wie viele Palästinenser schreiben in Deutschland in Zeitungen?
Nach dem 7. Oktober weigerten sich Linke weltweit, Israel zu sehen, die Angst zu spüren, die dieser Terror in Jüdinnen und Juden weltweit auslöste, die Retraumatisierung, die Frage: Geht es wieder los? Die Trauer fiel aus in der Linken, hinterließ eine riesige Leerstelle. Viele Juden haben davon berichtet, von der Einsamkeit des 8. Oktobers. In der deutschen Staatsräson war es andersherum: Palästina wurde jedes Mitgefühl verwehrt.
Doch heute, angesichts des Genozids in Gaza, wird Deutschland gezwungen, Palästina zu denken. Dieses Symbol, die Umrisse des britischen Mandatsgebiets Palästina, ist Ausdruck dieser Verschiebung. Es ist, als hätte man sich plötzlich erinnert: Ach ja, es gibt ja auch Palästina.
Denn jahrelang gab es Palästina nicht. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich 2018 mit dem jüdischen Autoren Yossi Bartal führte. Er fragte mich: „Wie viele Palästinenser schreiben in Deutschland in Zeitungen? Oder werden interviewt?“ Er sagte: „Ich werde viel stärker als Mensch wahrgenommen als sie.“ Deutschland hatte sich entschieden: Wenn nur einer von beiden Mensch sein kann, der Israeli oder die Palästinenserin, dann entscheiden wir uns für den Israeli. Für den Palästinenser klatscht Frau Roth nicht. Weil sie für den Israelis klatscht.
Eva Illouz spricht von einer „Schwäche des Denkens und der Moral“. Die moralische Schwäche komme daher, „dass sich beide Bevölkerungsgruppen verwundbar fühlen und sich gegenseitig als Opfer sehen“: „Wenn du zu sehr an Moral glaubst und dich zu sehr mit moralischen Kategorien identifizierst, gelingt dir genau diese Übung nicht, die darin besteht, den Blickwinkel zu ändern – und jemanden sowohl als Opfer als auch als Täter zu sehen.“ Illouz spricht hier für Jüdinnen und Juden – und geht davon aus, dass es für Palästinenser*innen ähnlich ist. Für beide Seiten ist es schwer, sich in die andere hineinzuversetzen.
Wenn aber deutsche Linke, die weder jüdisch noch palästinensisch aufgewachsen sind, sich dermaßen schwer damit tun – woran liegt das?
Jessica Ramczik und Monty Ott: Palästina-Solidarität als Projektionsfläche
Die Autor*innen Jessica Ramczik und Monty Ott treibt diese Frage um: Wieso solidarisieren sich manche Linke so stark mit Palästina und blenden die israelische und auch die jüdische Perspektive aus? Sie argumentieren dabei ganz ähnlich wie Illouz: „An die Stelle linker Handlungsfähigkeit trat moralische Selbstvergewisserung in einem nur ausschnitthaft verstandenen Konflikt. Die Parole vom ‚befreiten Palästina‘, die faktisch auf die Zerstörung Israels zielt, ignoriert innere Widersprüche. Eine simplifizierende Moralgrammatik – Unterdrücker versus Unterdrückte – ersetzt Differenzierung, legitimiert Gewalt und begünstigt Bündnisse mit reaktionär-islamistischen, anti-emanzipatorischen Kräften.“
Ramczik und Ott stellen die These auf, dass hier eine Projektion stattfindet: Aufgrund der eigenen linken Hilflosigkeit angesichts des Rechtsrucks projizieren Linke die Erlösung auf Palästina. „In der jüngeren Vergangenheit haben sich die großen Versprechen der Linken in den eigenen Gesellschaften – soziale Gerechtigkeit, kollektive Emanzipation, demokratischer Sozialismus – als uneinlösbar erwiesen.“ Palästina habe im Westen dann das entstandene Loch gefüllt.
Sie haben hier durchaus einen Punkt. Wir kennen diese Überidentifizierung aus der Linken sehr gut, sie ist allerdings keine Eigenheit des Nahost-Konflikts: Von Kuba über Nicaragua bis zu den Zapatistas in Mexiko, das kurdische Gebiet Rojava oder der Kampf von Proletariern in Deutschland, Linke suchten immer schon nach Sehnsuchtsorten, nach der Identifikation mit den Unterdrückten, an deren Seite sie die Befreiung erkämpfen konnte, und projizieren ihre Sehnsüchte auf diese Bevölkerungsgruppen oder Länder. Und Sehnsüchte kennen keine Widersprüche.
Wer Sehnsucht nach Palästina als Ort der Freiheit hat, wird im Kippbild kein Israel erkennen.
Beachtlich ist allerdings die enorme Verdrängungsleistung von Ramczik und Ott selbst, die in ihrem Text mit keinem Wort die Überidentifikation der antideutschen Linken und der deutschen Staatsräson mit dem Staate Israel erwähnen. Wie ist das möglich? Wie kann das sein?
Ist die Zwei-Staaten-Lösung eine Lösung für Israel und Palästina?
Sie erwähnen zwar die Widersprüche innerhalb der israelischen Gesellschaft und unter Jüdinnen und Juden, aber dass es etwas mit problematischer Projektion der deutschen Linken zu tun haben könnte, wenn antideutsche Linke die Umrisse Israels vom Fluss bis ans Meer in ihr Zimmer hängen oder die Verbrechen der IDF als gelebte Antifa abfeiern, kommt ihnen nicht in den Sinn?
„Hier haben wir es wirklich mit einem Fall zu tun, in dem moralische Kategorien uns am Denken hindern und uns daran hindern, Fortschritte zu machen – auch moralisch“, sagt Eva Illouz über das Kippen des Bildes. Ich spüre dies auch bei Ramczik und Ott.
T-Shirts und Schlüsselanhänger sind schwarz oder weiß, sie fräsen Umrisse imaginärer oder realer Nationalstaaten in Stoff oder billiges Blech. Sie werden uns keinen Weg aus dieser Denkblockade weisen, sondern zeigen nur eines auf: Zwei Bevölkerungen erheben Anspruch auf dasselbe Gebiet. Was für eine bahnbrechende Erkenntnis im Nahost-Konflikt.
Nun, da ein Frieden in Gaza in greifbare Nähe rückt, ist die Frage, welche Umrisse Palästina hat, keine Frage von bedruckten T-Shirts auf Chefkets Rapperbrust mehr – sie ist ganz real. Was bedeutet ein Frieden für Israel und Palästina? Rückt die Zwei-Staaten-Lösung wieder in den Bereich des Denkbaren? Ich möchte ein letztes Mal zurückgehen zu meinem Gespräch mit Yossi Bartel im Mai 2018, ich fragte ihn, was man einen linken Juden so fragt, wenn man nicht weiter weiß: „Was ist mit der Zwei-Staaten-Lösung?“, und er sagte: „Ich glaube nicht mehr an die Zwei-Staaten-Lösung.“ – „An welche Lösung dann?“ – „Es gibt natürlich auch keine andere Lösung!“
Ich verstehe seine Worte eigentlich erst jetzt. Tomer Dotan-Dreyfus schreibt, wir müssten wohl zu der Einsicht kommen, „dass Israel keine Erlösung für uns Juden ist, und deshalb auch keine Erlösung für Deutsche sein kann. Das nervt.“