Bundestag | Ohne Grundmandatsklausel und Überhangmandate: Was die Wahlrechtsreform bedeutet

Heikel sind Änderungen am Wahlrecht immer. Die Redewendung von der „Operation am offenen Herzen der Demokratie“ hat ihre Berechtigung. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) musste schon häufig regelnd eingreifen. Da das Wahlrecht durch einfache Mehrheiten geändert werden kann und sich die Wahlergebnisse schon durch kleine Änderungen wie die Aufteilung der Wahlkreise verändern können („Gerrymandering“), ist stets größte Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit geboten.

Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP möchte das stetige Anwachsen der Zahl der Abgeordneten im Bundestag beenden. Der Weg, den sie dafür geht, ist radikal, aber auch nötig.

Das Problem Ausgleichsmandate

2012 urteilte das BVerfG, dass das von Union und FDP überarbeitete Wahlrecht verfassungswidrig sei. Ein Grund hierfür waren die Überhangmandate, die entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort nach der Zweitstimme zustehen. Dadurch saßen mehr Unions-Abgeordnete im Bundestag, als die Union nach dem Wahlergebnis haben dürfte, ein verfassungswidriger Zustand. Die Lösung dieses Problems lag in der Schaffung von Ausgleichsmandaten, die nach einer komplizierten Berechnungsmethode so lange anderen Parteien zugeschlagen werden, bis die Anzahl der Abgeordneten wieder zum Wahlergebnis passt. Hierdurch musste eine gewisse Zahl an Überhangmandaten nicht ausgeglichen werden.

Das Problem dieser Lösung ist, dass der Bundestag mit jedem zusätzlichen Überhangmandat stetig wächst. Treibender Faktor ist die schwächelnde CSU, die zwar verlässlich ihre Direktmandate gewann, beim Zweitstimmenergebnis aber von 7,4 Prozent 2013 auf 6,2 Prozent 2017 und 5,2 Prozent 2021 herabsank. Die letzte Änderung des Bundeswahlgesetzes 2021 sah schließlich vor, dass die letzten drei Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen werden – eine Regelung, von der erneut vor allem die CSU profitierte.

Ende der Überhangmandate

Überhangmandate sollen mit der Reform der Ampel-Koalition nun ganz vermieden werden, indem Parteien ausschließlich so viele Sitze erhalten, wie ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das entspricht der Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts. Wahlkreiskandidaten sind damit erst gewählt, wenn diese eine Mehrheit in ihren Wahlkreisen erringen und eine Deckung durch die Zweitstimme besteht. Gibt es mehr Wahlkreisgewinner, als der Partei Sitze nach der Zweitstimme zustehen, gehen jene mit dem schwächsten Ergebnis leer aus. Damit nicht zu viele Wahlkreise ohne erfolgreiche Wahlkreisbewerber enden, soll auch die Anzahl der Abgeordneten im Bundestag von 598 auf 630 erhöht werden.

Da jedoch nicht nur Parteien zur Bundestagswahl antreten, sondern auch parteiunabhängige Kandidaten eine Chance auf einen Sitz haben müssen, gilt für diese eine Ausnahme als Einzelkandidaten – dazu später mehr.

Eine weitere tiefgreifende Änderung ist das Ende der Grundmandatsklausel. Danach scheitern Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde nicht, solange sie mindestens drei Direktmandate erringen können. Auf diese Weise schaffte die Partei Die Linke den Wiedereinzug in den Bundestag.

Alexander Dobrindt tobt

Pikant: Anscheinend sorgte zunächst die CDU dafür, dass die Grundmandatsklausel fallen soll – ungerührt dessen, was dies für die CSU bedeutet. Die Kritik fiel dementsprechend heftig aus: Ein „großes Schurkenstück“ nannte Alexander Dobrindt (CSU) die Novelle, die Ampel wolle die Linke aus dem Parlament drängen und das Existenzrecht der CSU infrage stellen, sie begehe den Versuch von „Wahlrechtsmanipulation“ mit dem Ziel, „den Machtanspruch der Ampel zu zementieren“. Die Vorlage sei falsch und fehlerhaft.

Faktisch führt der Reform nach eine Mehrheit der Stimmen in einem Wahlkreis nicht mehr zwingend auch zu einem Mandat. Auch ohne die Floskel zu bemühen, dass dies „demokratietheoretisch problematisch“ wirkt, lässt sich ein gewisses Störgefühl nicht verneinen.

Erfolgen Änderungen am Wahlrecht, so müssen sich diese an den Wahlgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes messen lassen, dies sind unter anderem die Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl, zudem der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl.

Unmittelbarkeit und Gleichheit

Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verlangt, dass sich die Zusammensetzung des Parlaments ausschließlich aus der Wahlentscheidung der Bürger*innen ergeben darf. Eine weitere politische Willensentscheidung darf nicht dazwischengeschaltet werden. Zwar hängt der Einzug von Wahlkreisbewerbern nun vom Abschneiden der anderen Wahlkreise und dem Zweitstimmenergebnis ab, einen Fall der eng verstandenen Unmittelbarkeit der Wahl stellt dies jedoch nicht dar. Mit dem Schließen der Wahllokale steht fest, wer einzieht und wer den Einzug verpasst, ein gesonderter Akt abseits der Stimmenauszählung findet nicht statt.

Die Gleichheit der Wahl besteht genau genommen aus Zählwert- und Erfolgswertgleichheit. Die Zählwertgleichheit verlangt, dass jeder Bürger*in dieselbe Anzahl an Stimmen und jede Stimme das gleiche Gewicht hat. Währenddessen bedeutet die Erfolgswertgleichheit, dass jede Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben muss.

Vorher war es komplexer

Am Zählwert der Stimmen bleibt auch mit der Reform alles gleich. Es stellt sich jedoch die Frage, ob mit der Änderung bei den Direktmandaten der Erfolgswert leidet, wenn Mehrheiten nicht mehr für ein Mandat ausreichen. Auch hier ist die Sorge jedoch unbegründet, denn auch am Erfolgswert der Stimme ändert sich nichts. Die Chance für die Wahlkreisbewerber, in den Bundestag einzuziehen, ist für alle gleich und hängt lediglich vom Proporz ab.

Zuletzt verbleibt der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, danach muss kurz gesagt der gesamte Wahlvorgang für die Bürger*innen nachvollziehbar gestaltet werden. Hierbei ist grundsätzlich denkbar, dass auch eine besonders kompliziert gestaltete Sitzverteilung den Grundsatz der Öffentlichkeit berühren kann, doch auch hier lässt sich eine gute Kontrollüberlegung entgegenhalten: Das noch geltende Wahlsystem ist mit den Berechnungsarten, wie viele Ausgleichsmandate den jeweiligen Parteien zustehen, nicht weniger komplex als das neue System, bei dem die Proporzverteilung darüber entscheidet, ob Wahlkreisbewerber ein Mandat erhalten. An den Berechnungsmethoden nahm das BVerfG bisher auch keinen Anstoß, es hat sie vielmehr verursacht, und so dürfte auch das neue System eine gute Chance haben.

Ein Schlupfloch für die CSU

Gegen die Ausnahme der Einzelliste bzw. auf deren Missbrauchspotenzial wurde verschiedentlich mit einem Extrembeispiel hingewiesen: So wäre möglich, dass die CSU statt mit einer Landesliste nur mit Einzelkandidaten antreten könnte, diese „verkappten Einzelkandidaten“ wären dann weder von der Fünf-Prozent-Hürde betroffen noch von der Kappung der schwächsten Ergebnisse. Zwar müsste diese Bewerbung durch eine Unterschriftenliste ermöglicht werden, doch eine Hürde stellt dies nicht dar. Dieses Vorgehen erscheint auf den ersten Blick rechtsmissbräuchlich, um die strengeren Vorgaben zu umgehen, und es ist auch fraglich, ob die CSU eine Gefahr der Zurückweisung eingehen würde. Gleichwohl sollte es der Gesetzgeber darauf nicht ankommen lassen und eine klare Schranke formulieren.

Durch den Wegfall der Grundmandatsklausel steht die Fünf-Prozent-Hürde fortan ohne Einschränkung. Weder die Partei noch die ihr zugehörigen Wahlkreisgewinner ziehen aufgrund der strengen Kopplung an die Zweitstimme bei einer Unterschreitung ein. Das ist nicht nur für die Partei Die Linke ein großes Problem, sondern auch für die CSU, die im schlimmsten Fall trotz 45 gewonnener Wahlkreise in Bayern bei einem Wahlergebnis von 4,9 Prozent keine Abgeordneten nach Berlin entsenden dürfte. Auch die FDP läuft Gefahr, nach 2013 erneut nicht in den Bundestag einzuziehen.

Die Fünf-Prozent-Hürde ist grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar. Sie dient dazu, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Der Konflikt mit der Gleichheit der Wahl erlaubt jedoch keine abstrakte Klärung der Frage. Die Fünf-Prozent-Hürde muss sich stets erneut vor den aktuellen Gegebenheiten rechtfertigen. Hierbei muss sich gefragt werden, ob es unserer Demokratie einen Dienst erweist, wenn fast 15 Prozent der Stimmen (zusätzlich zu den rund sechs Prozent Stimmen für sonstige Parteien) keine Beachtung mehr in der Sitzverteilung des Bundestages finden.

Alternative Drei-Prozent-Hürde

Sollte die Koalition den Wegfall der Grundmandatsklausel beibehalten, wäre ein Herabsenken der Fünf-Prozent-Hürde auf vier Prozent, oder – wie bei der Europawahl – auf drei Prozent angebracht. Eine Diskussion darüber, ob diese Grenze noch zeitgemäß ist, ist ohnehin überfällig.

Nach der Bundestagswahl 2021 erlebte das Parlament eine Verjüngungskur. Betrug das Durchschnittsalter im Plenum in den Perioden davor durchweg mindestens 49,3 Jahre, sank es 2021 auf 47,3 Jahre. Vor allem SPD und Grüne trugen zur Verjüngung bei – sie erhielten auch die meisten Ausgleichsmandate. Dazu stieg die Anzahl der Frauen unter den Abgeordneten.

Die ersten Plätze auf den Landeslisten gehen an das Spitzenpersonal: Je weiter oben man steht, desto wahrscheinlicher ist ein Sitz im Parlament. Für die Jüngeren gibt es als Brotkrumen meist die hinteren Plätze – und dann das Hoffen auf Ausgleichsmandate. Damit ist abzusehen, dass der Bundestag 2025 – übersteht die von der Ampel beschlossene Wahlrechtsreform die angekündigten Klagen – zwar wieder kleiner, aber auch älter wird, insofern die Parteien ihre Praxis bei der Vergabe der Listenplätze nicht anpassen.

Robin Mayer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie der Universität Würzburg.