Bruce Springsteen: Wer er nachrangig noch war

Denkt man an Springsteen, denkt man an den Boss, den Leader der E Street Band, den verschwitzten Showman, den sich heiser schreienden Rocksänger, der in poetischen, romantischen Hymnen den Ausbruch wagt. Man denkt vielleicht auch an den Chronisten der einfachen Leute, den Patrioten und Protestsänger, der sich am amerikanischen Traum und der amerikanischen Wirklichkeit abarbeitet. Kennen wir alles. Woran man aber nicht denkt: an Trip-Hop, an mexikanische Folklore, an Jazz-Pop, an Bossa Nova, an Ambient, an Instrumentales. Solche Umwege aber hat Springsteen gemacht, vor allem in den Neunzigerjahren. Folgt man diesen Wegen, entsteht ein anderes Bild des Musikers, eine alternative Springsteen-Geschichte, die nun endlich ins Licht der Öffentlichkeit rückt.

Sechs Alben, die Springsteen zu ihrer Entstehungszeit nicht herausgebracht hat – und ein siebtes, das ursprünglich nicht als Album konzipiert war –, erscheinen jetzt in dem Boxset Tracks II: The Lost Albums. (Tracks war der Name einer 1998 veröffentlichten Kompilation.) Insgesamt 83 Songs, dazu eine Einleitung von Springsteen persönlich. „Aus dem einen oder anderen Grund“, schreibt er darin, „haben diese sieben Alben nie das Licht der Welt erblickt.“ Vielleicht hätte ihre Veröffentlichung seine Karriere „interessanter“ gemacht, überlegt er. Aber die Zweifel hätten stets überwogen. Von seiner großen Geschichte, wie Springsteen sie auf seinen längst kanonisierten Alben erzählt hat und weiterhin erzählt, habe er nicht abschweifen wollen.

Das älteste der Lost Albums entstand ein Jahr nach Springsteens mythenumrankter Platte Nebraska (1982), die ihn gelehrt hatte, dass seine Songs auch ohne die Verstärkung der E Street Band bestehen konnten. L.A. Garage Sessions ’83 dokumentiert einen Umzug von New Jersey in die Hollywood Hills, wo sich Springsteen ein Studio einrichtete, in dem er vornehmlich allein an Songs arbeitete. Einige der Stücke sind Rock-’n‘-Roll-Fingerübungen, liebenswert, wenn auch nicht sonderlich inspiriert. Die besten Lieder der Sessions aber führen den Fatalismus von Nebraska fort. Fugitives Dream etwa legt über die Akustikgitarre eine unruhige Bassfigur und ominöse Synthie-Fanfaren. Im Film-noir-Modus singt Springsteen von der Unmöglichkeit, seiner Vergangenheit zu entkommen. In The Klansman erzählt er kurz darauf aus der Sicht eines Kindes, das von einem fanatischen Rassisten erzogen wird. Die Stücke erscheinen nicht. Stattdessen kommt ein Jahr später das ultimative Stadionalbum Born in the USA heraus, aufgenommen wieder mit der E Street Band.

Drumloops und Synthesizer?!

Der größte Teil der Lost Albums stammt aus den Neunzigerjahren, einem Jahrzehnt, das selbst vielen Fans als Springsteens schwächstes gilt. Während er, wie man in seiner Autobiografie Born to Run lesen kann, einen erfüllenden Lebensabschnitt als Familienvater erlebte, war Springsteen als Künstler verunsichert. Mit Sessionmusikern nahm er 1992 zwei ungeliebte Alben, Human Touch und Lucky Town, auf. Der eine Song aus dieser Ära, mit dem Springsteen den Zeitgeist durchdrang, war ausgerechnet eine Auftragsarbeit: das todtraurige Streets of Philadelphia, das er für den Film Philadelphia von Jonathan Demme schrieb, in dem Tom Hanks einen an Aids erkrankten Rechtsanwalt spielt. Mit Drumloops und Synthesizern galt der Song als Ausnahmeerscheinung in Springsteens Werk. Bis jetzt.

Ein Höhepunkt der Lost Albums sind nämlich die Streets of Philadelphia Sessions: Zehn Songs, in denen Springsteen den Sound des Titelstücks weiter ergründet, tranceartige Synthesizer über Hip-Hop-Beats legt und zusammen mit E-Gitarren-Texturen geisterhafte Klangwelten erschafft. Kein Zugeständnis an den Trip-Hop-Sound der damaligen Stunde ist diese Musik, sondern perfekte Kulisse für seine Stimme, die hier einfühlsam und beruhigend klingt, dann wieder unheimlich und kalt Die Songs handeln von Misstrauen und Geheimnissen, von Entsagung und Unterdrücktem, von Krankheit und Depression. Springsteen schrieb damals einige seiner brutalsten Zeilen: Now I know theres things in this world, baby/ That should stay locked up forever inside our heads.“ Statt das Album herauszubringen, veröffentlichte er eine Greatest-Hits-Sammlung.

Anderes ist zu Recht in der Schublade geblieben: Somewhere North of Nashville etwa, eine Honkytonk-Rockabilly-Platte, die Springsteen zeitgleich mit dem (tatsächlich 1995 veröffentlichten) Album The Ghost of Tom Joad aufnahm. Nashville kommt als leichteres Gegenstück zum ernsten Tom Joad daher, ist aber beinahe ein Totalausfall. Generisches, auch unangenehm lüsternes Saloon-Gerumpel, das gern weiter auf Tonbändern im Tresor hätte bleiben können, wäre es nicht wenigstens als historisches Dokument interessant. Etwas höher ist die Trefferquote auf Perfect World, dem einzigen Lost Album, das seinerzeit nicht als Album gedacht war, sondern nun von Springsteen aus Outtakes von 1994 bis 2011 zusammengestellt wurde.