Brandenburg | Die AfD erlebt wohnhaft bei den Kommunalwahlen in Brandenburg ein Debakel

Sie sollten doch bitte nicht wieder aus Eisenhüttenstadt weggehen, ist das Kollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen angefleht worden. „Endlich war hier was los!“, schwärmten Tänzerinnen und Sänger aus Hütte. Das Theaterkollektiv aus dem 120 Kilometer entfernten Berlin und die mehr als 100 Laien aus der ersten sozialistischen Planstadt der Republik hatten da gerade drei Vorstellungen ihrer Hüttenstadt Elegie hinter sich, ihrer gemeinsamen Gala zu 70 Jahren Friedrich-Wolf-Theater. Eine Feier der Geschichte dieser Stadt, die die DDR vor 75 Jahren samt Stahlwerk im märkischen Sand zu errichten beschloss, und ein Hoch auf eines ihrer allerersten Häuser: Der neoklassizistische Theaterbau wirkt nur vermeintlich überdimensioniert für eine Stadt, deren Einwohnerzahl von 53.000 Ende der 1980er auf heute 24.000 gesunken ist. Benannt ist das „FriWo“ nach dem 1953 verstorbenen Dramatiker, Vater von Regisseur Konrad Wolf und Spionage-Chef Markus Wolf.

Es war eine wilde Gala mit aufblasbarem Karl-Marx-Kopf, Elektrobeats und Zitaten aus Cyankali, Wolfs Stück von 1929, das aufsehenerregend in Deutschland die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kritisierte. „Wo sind heute die Männer wie Freddy Wolf, die sich für den Uterus interessieren, obwohl sie selber keinen haben?“, rief eine der Performerinnen der Elegie. Am Tag nach der letzten Vorstellung lief das Berliner Kollektiv durch die Stadt und fragte Passanten, ob sie schon wählen waren. Denn an dem Tag stand in Eisenhüttenstadt die Stichwahl zum Bürgermeister an. Mit 38 Prozent hatte AfD-Bewerber Maik Diepold die erste Runde gewonnen, elf Prozent mehr als Marko Henkel, parteiloser SPD-Kandidat.

AfD-Niederlagen von Elsterwerda bis Rheinsberg

Als sie am Mittwoch zuvor im Theater abends noch in der Generalprobe steckten, hatte 100 Meter weiter die AfD zum Stammtisch im „Balkan-Grill“ geladen. Die Ortsvorsitzende warf Folien mit Zahlen an die Wand, Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu den AfD-Chancen in einer Stichwahl, wenn sich alle ausgeschiedenen Kandidaten der ersten Runde für den „demokratischen“ Bewerber aussprechen, wie in Eisenhüttenstadt. Diepold könnte knapp verlieren! Umso wichtiger sei, in möglichst allen 22 Wahllokalen mit Beobachtern präsent zu sein, vor allem bei der Auszählung der Briefwahlstimmen! Nur bei denen wurde Diepold in Runde eins nicht Wahlsieger.

Im Balkan-Grill verbat sich der noch die „Schwarzmalerei“ und rief: „Die rote Stadt wird blau, dann zieht von Eisenhüttenstadt her Vernunft in Deutschland ein!“ Doch das Gros der 20 AfD-Anhänger war hörbar überzeugt, ihr Kandidat könne Opfer von Wahlbetrug werden. Am Ende verlor er deutlich: 57 Prozent stimmten für Henkel.

In Frankfurt (Oder) siegte ein parteiloser Politik-Quereinsteiger

Keine einzige der Bürgermeisterwahlen in Brandenburg dieser Tage konnte die AfD gewinnen. Von Elsterwerda über den Spreewald bis Rheinsberg blieb sie chancenlos, in Eisenhüttenstadt war es noch am knappsten. Nicht nur dessen Nachbarstadt Frankfurt (Oder) wählte einen parteilosen Politik-Quereinsteiger statt des jahrelang etablierten AfD-Vertreters.

Eisenhüttenstadts neuer Bürgermeister Marko Henkel hat am Wahlabend gleich über Instagram die Oder rauf Grüße geschickt, an seinen künftigen Frankfurter Amtskollegen. Wie der ist Henkel parteilos, aber Quereinsteiger ist er nicht. Der neue Bürgermeister warb im Wahlkampf damit, der einzige Kandidat zu sein, der der Stadtverordnetenversammlung angehört. Das war durchaus gewagt in Eisenhüttenstadt, wo die Klage über Still- wie Leerstand und die Kommunalpolitik verbreitet ist. 50 Prozent machten bei der Bürgermeisterwahl von ihrem Wahlrecht Gebrauch. „Auch bei uns haben viele Menschen in den vergangenen 35 Jahren nicht die Wertschätzung erhalten, die nötig gewesen wäre, um alle mitzunehmen“, sagt Marko Henkel.

7.000 von 11.500 Beschäftigten im Eisenhüttenkombinat Ost verloren mit der Einheit ihre Arbeit. Heute sind noch 2.700 im „EKO“ beschäftigt, das jetzt zu ArcelorMittal gehört. Ihre Zukunft ist ungewiss. Im Juni sagte der Konzern die Umrüstung auf grünen Stahl wegen zu hoher Energiepreise ab.

In Eisenhüttenstadt sind beide Kandidaten geboren und geblieben

„Ein echter Hüttenstädter“ hat Henkels AfD-Gegenkandidat Diepold plakatieren lassen. Auch Henkel ist hier geboren und geblieben, wie beide eine Berufsbiografie voller Wendungen um die Wende herum eint. Berufs- und Branchenwechsel, Umschulungen, auch ohne im Stahlwerk gearbeitet zu haben. Diepold ist heute Sachbearbeiter im Altpapier-Einkauf einer Papierfabrik, die Henkel als die letzte größere Gewerbeneuansiedlung in Eisenhüttenstadt erinnert, vor 16 Jahren. Er selbst ist Teamleiter bei einem Finanzdienstleister.

Henkel, 58, denkt an die Wende als „Zeit der Möglichkeiten“ zurück. Eine solche hatte es in seiner deutsch-deutschen Familie schon früher gegeben: Die Tante zog Anfang der 1960er aus Nordrhein-Westfalen in die DDR, um Medizinerin zu werden; bald folgte ihr Henkels Vater, um in Frankfurt (Oder) Handball zu spielen, und heiratete eine Hüttenstädterin. AfD-Mann Diepold, 49, ist Sohn eines Wasserschutzpolizisten in Hütte, seine Mutter arbeitete für eine Wohnungsbaugenossenschaft. Er denkt an vor der Wende, wenn er in einem Interview an die Zeit erinnert, in der das Land funktioniert hätte, anders als heute.

Kurz vor der Wahl hat Diepold Schützenhilfe aus der Landeshauptstadt erhalten. In Potsdam selbst war für die AfD nicht viel zu holen, Oberbürgermeisterin wird auch hier eine Parteilose, die SPD verliert nach 35 Jahren erstmals die Führung der Stadt. Aber aus dem Landtag kam Fraktionsgeschäftsführer Dennis Hohloch zum AfD-Infostand mit Diepold nach Eisenhüttenstadt. Professioneller Instagram-Video-Content, der für Maik Diepold warb, folgte. Auch vor Ort drehen die Kandidaten Videos, was sympathisch, aber etwas unbeholfen wirkt.

Der AfD-Kandidat bekam prominente Schützenhilfe aus Potsdam

Hohloch ist in der Gegend direkt gewählter Landtagsabgeordneter, wird vom Verfassungsschutz als „Rechtsextremist“ beurteilt und ist durch den Begrüßungs-Hieb bekannt geworden, mit dem ihm Brandenburgs damaliger AfD-Chef Andreas Kalbitz die Milz zerriss.

Am Tag nach dem Bürgermeister-Votum ist es um Eisenhüttenstadt still geworden auf seinen Online-Accounts. Dort geht es jetzt um Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz, wo der AfD-Kandidat wegen Zweifeln an seiner Verfassungstreue von der Wahl ausgeschlossen worden war. Woraufhin die Wahlbeteiligung auf 24 Prozent sank und der Anteil der ungültigen Stimmen auf 5,5 Prozent schnellte.

In Eisenhüttenstadt hat die AfD-Ortsvorsitzende Marko Henkel zum Wahlsieg gratuliert. Maik Diepold hat seine Niederlage anerkannt. Sein Briefwahlergebnis ist um fünf Prozent gestiegen, auf 29 Prozent. Selbst in Hütte war der Ausgang so klar, dass sich die AfD ihr Raunen über Wahlbetrug verkniff.

In Brandenburg führt die AfD die Umfragen an

Die Partei führt in Brandenburg die landesweiten Umfragen an, mit 34 Prozent, zehn mehr als die mit dem BSW regierende SPD. Doch zumindest derzeit scheint ihr Potenzial damit erschöpft. Eine blaue Welle von unten ist ausgeblieben. Die Bürger entschieden sich vor allem für Kandidaten ohne Parteibuch, wie Henkel.

Der hat in Eisenhüttenstadt keinen Brandmauer-Wahlkampf geführt. Er ist über die breiten Magistralen und durch die weitläufigen begrünten, autofreien Innenhöfe gelaufen, hat Flyer verteilt und von seinen Plänen erzählt, die Wirtschaftsförderung neu aufzustellen und junge Menschen in die Stadt zu holen, gern „in großer Zahl und gern Künstler aus Berlin, Leipzig oder Dresden, wo es für sie doch immer weniger Freiräume gibt“.

Tosender Applaus für ein lebendes Stahlwerk im Theater

In Eisenhüttenstadt gibt es sie, das legendäre Hotel Lunik etwa, das ein Spekulant aus Hamburg jahrelang leerstehen ließ, bis es eine städtische Wohnungsbaugenossenschaft zurückkaufte und für Ausstellungen und Performances öffnete. Mit dem Chef der Genossenschaft, der als Architekt in London und Berlin arbeitete, hat Henkel ein Video für Instagram aufgenommen. Und mit Martin Maleschka, dem Autor des Architekturführers Eisenhüttenstadt, mit dem in der Hand längst Touristen in die Stadt pilgern, um die Pracht des sozialistischen Städtebaus zu bestaunen. „Wir hatten hier bis vor einiger Zeit vier Stadtführer“, sagt Henkel, „inzwischen sind es 16.“

Touristen kommen und gehen, aber in Hütte sollen künftig Menschen bleiben. Ihr Programm für kostenloses Probewohnen, über das internationale Medien berichteten, legt die Stadt gerade neu auf. Für Theaterperformer wie die des Kollektivs Panzerkreuzer Rotkäppchen wäre dauerhaft Platz. Bei ihrer Hüttenstadt Elegie sei die Stimmung so ganz anders gewesen als in Berlin, schwärmen sie: Reinrufen wie im Stadion während der Vorstellung, tosender Applaus, wenn eine Darstellerin als lebendes Stahlwerk die Bühne betritt. Die Eisenhüttenstädter haben sich diesmal gegen die AfD entschieden. Für die Zukunft brauchen sie jetzt mutige Mitstreiterinnen aus den Metropolen.