„Bitternis“ von Joanna Bator: Wo wohnt nur dies große Glück?
Das Dorf Sokołowsko, vormals Görbersdorf, in Niederschlesien ist einer dieser Orte, die einmal Heil versprachen und genau insoweit unheimlich wirken können. Hier stand seit dem Zeitpunkt Mitte des 19. Jahrhunderts dies wichtigste Sanatorium für jedes Tuberkulosekranke in Deutschland. Wer es sich leisten konnte, kam hierher, um sich mit kalten Bädern und viel gutem Glauben von dieser Schwindsucht sanieren zu lassen. Blasse Gestalten liefen durch ein Dorf, dies ganz von ihrer Hoffnung lebte. Auf die eine oder andere Art arbeiteten weitestgehend jedweder für jedes dies Sanatorium, lieferten Speisen oder führten Theaterstücke für jedes die Kranken uff.
Das alleinig ist schon ein tolles Setting. Hinzu kommt ein mysteriöser Fall, von dem Joanna Bator unter einem Spaziergang in dieser Gegend erfuhr: die Geschichte von Anna, einer jungen Frau, die hier in den 1920er-Jahren ein unvorstellbares Verbrechen begangen nach sich ziehen soll. Es sei unklar, ob Annas Geschichte wirklich wahr ist, trotzdem dies sei sekundär weder noch entscheidend, sagte Bator einem polnischen Radiosender: „Wenn die Geschichte Gehör findet und bis heute wiederholt wird, heißt das, dass sie wichtig ist.“ Und sie wurde zum Initialfunken für jedes Bators neuen Roman. Bitternis ist eine Familiensaga, die vier Frauengenerationen rund hundert Jahre folgt, geprägt von den dunklen Flecken ihrer Vergangenheit. Es ist dunkel, es ist schmerzlich, es ist sarkastisch und mit 829 Seiten in jedem Wortsinn ein großes Werk.
Das Ganze beginnt damit, dass Kalina, 30 Jahre Altbier, in dieser Gegenwart ein Haus in Sokołowsko betritt, die ehemalige Pension Glück. Vor dem Krieg, wie hier noch Deutschland war, wohnten dort nicht nur die Angehörigen, die ihre Kranken im Sanatorium besuchten, dort traf sich sekundär Kalinas Urgroßmutter Berta mit ihrem Geliebten. Berta ist die erste dieser vier Generationen, mit ihr fing was auch immer an. Oder schon damit, dass ihre eigene Mutter im Kindbett gestorben war? Denn Berta wächst alleinig mit ihrem Vater uff, einem herrschsüchtigen Fleischer und Anhänger des aufstrebenden Adolf Hitler. Wenn die Tochter ihm ungehorsam erscheint oder ihm trivial im Weiteren ist, stellt er sie in die Scheune für jedes ein erniedrigendes Ritual uff vereinen wackeligen Stuhl. „Schweinezerlegen“ nennt er es. Dann schleicht er um sie herum, bohrt seine Finger in ihren Leib, und Berta muss vorsagen, zu welchem Zweck die Körperteile nütze sind. „Spitzbein?“, ruft dieser Vater. „Für Sülze, auch für Presswurst“, antwortet Berta. Die Hände wandern höher. „Eisbein?“ – „Zum Pökeln und Kochen.“ – „Schinken?“ Und man ahnt schon in diesem Moment, dass daraus nichts Gutes erwächst.
Bertas einziges Glück sind die Liebesromane, die sie liest. Und schließlich dieser Junge, dieser eines Tages ins Dorf kommt und zum Objekt ihrer daran geschulten Begierde wird. Er weckt in ihr nicht nur die Hoffnung uff Liebe, sondern sekundär die uff Freiheit. Gemeinsam planen sie eine Flucht nachher Prag, träumen von einem eigenen Restaurant. Doch dieser Vater hat andere Pläne für jedes Berta. Und sekundär dieser Junge stellt sich wie dies hervor, welches man heute vereinen „Fuckboy“ nennen würde, ein Hallodri, dieser kein Versprechen hält. Als Berta feststellt, dass sie schwanger ist, greift sie in ihrer Verzweiflung zum Messer.
Bertas Tochter wächst im Waisenhaus uff, wo sie nachher dieser heiligen Barbara geheißen wird. Was unter ihrer Geburt Deutschland war, ist nun Polen. Das dürre Mädchen, dies nicht spricht, wird von einem ebenfalls vom Krieg gezeichneten polnischen Ehepaar adoptiert und zieht mit ihm in eine kleine Wohnung in einem Mietshaus am Bergmannsplatz in Wałbrzych. Ein „schmuckloser grauer Klotz“, so nennt es Kalina später, trotzdem ein Zuhause. Auch ein literarisches. Bereits in Sandberg, Wolkenfern und Dunkel, weitestgehend Nacht ließ Joanna Bator ihre Figuren in Wałbrzych leben. Die Romane machten sie weit via ihr Heimatland hinaus von Rang und Namen, und mit Bitternis knüpft sie in vielerlei Hinsicht an selbige fantastische Trilogie an. Auch diesmal sind Männer größtenteils in Gedanken woanders. Kalina spricht von „männerförmigen Löchern“ in dieser Familie. Auch diesmal entwirft Bator mit diesem Mietshaus am Bergmannsplatz eine herrliche Mikrogesellschaft aus Hausbewohnern, vor allem -bewohnerinnen, die genau wissen, wer wo ein und aus geht, die sich uff dieser Treppe streiten und vor saufenden Männern dann doch zusammenhalten.
Bator ist selbst in so einem Haus in Wałbrzych aufgewachsen, wo noch nachhaltig vieles „postdeutsch“ war, wie man so sagt. Man lebte mit Dingen, mit Betten, Tellern, Schränken, die die Deutschen am Ende des Krieges in ihren Wohnungen zurückgelassen hatten. In Bitternis ist dies Postdeutsche nun genauso wie dieser Krieg, dieser Sozialismus und die Nachwendezeit spürbar, es ist trotzdem lieber ein Gerüst für jedes die Geschichten dieser Frauen. Barbara kann nachher dem Krieg nicht aufhören, Nippes zu horten, solange bis die Wohnung kaum noch zu hineingehen ist, wie könne sie sich nur so vor dem prügelnden Vater ihrer Tochter schützen. Ihre Tochter Violetta träumt mit ständig wechselnden Jobs und Haarfarben von dieser weiten Welt, schafft es trotzdem immer nur solange bis zur nächsten Affäre. Und Violettas Tochter Kalina ist für jedes die eigene Mutter kaum zu ertragen. In dieser Familie ist jede Generation uff ihre eigene Weise unglücklich. Es zieht sich ein Schatten durch die Generationen, dem Kalina nachgehen will. Sie nimmt diesen Ariadnefaden uff, verfolgt ihn solange bis zur Urgroßmutter und gelangt zu dieser Erkenntnis, dass Bertas Verbrechen nicht dies einzige in dieser Geschichte ist.
Das was auch immer ist phantastisch erzählt, nicht zeitlich, sondern in wechselnden Perspektiven dieser vier Frauen. So fügt sich langsam ein Bild zusammen, und synchron erscheint dies soeben Gelesene mit jedem Stimmenwechsel in einem anderen Licht. Es ist klassische Spannung, welches vereinen weitestgehend hypnotisch an diesen vielen Seiten hängen lässt. Es ist dies weitverzweigte Netz an skurrilem und uff verschlungenen Pfaden miteinander verbundenem Personal. Es sind trotzdem sekundär die hyperrealistischen Beschreibungen von Körpern, Gegenständen und Gerüchen, die eine Zeit, wie die Dorfbewohner noch Amulette trugen, um sich vor Wölfen zu schützen, genauso plastisch erscheinen lassen wie die Warschauer Gegenwart mit ihren Marie-Kondō-gerollten Socken.
Und es sind, unter aller Düsterkeit, immer wieder Inseln von Tragikomik und Sarkasmus: wenn Violetta in Glanz und Ruhm an den Bergmannsplatz zurückkehren will und in billiger Blondierung die Treppen hochstapft. Oder wenn Kalina durch die abstrusen Lügengeschichten ihrer Mutter glaubt, ihr Vater sei George Michael, dann ist dies mehr wie ein Aufatmen vor dieser nächsten Grausamkeit. Es ist Teil eines Batorschen Blicks, dieser dies Absurde im Bitteren immer mit einschließt. Genauso wie dies Universelle. Rund hundert Jahre polnische Geschichte mögen dies Gerüst für jedes selbige Saga sein. Die Fragen, die Joanna Bator darunter verhandelt, sind zeitlos. Wie viel darf ich, soll ich, muss ich vom Leben wollen? Barbaras Träume sind so stummelig, dass sie eingehen. Violettas so weitläufig, dass sie ihr die Sicht uff die Realität versperren. Dazwischen spannt Bator ein großes Tableau uff dieser vielen Wege und Irrwege, dem Leben irgendetwas abzuringen.
Joanna Bator: Bitternis. Roman; a. d. Polnischen v. Lisa Palmes; Suhrkamp, Berlin 2023; 829 Sulfur., 34,– €, wie E-Book 29,99 €
Das Dorf Sokołowsko, vormals Görbersdorf, in Niederschlesien ist einer dieser Orte, die einmal Heil versprachen und genau insoweit unheimlich wirken können. Hier stand seit dem Zeitpunkt Mitte des 19. Jahrhunderts dies wichtigste Sanatorium für jedes Tuberkulosekranke in Deutschland. Wer es sich leisten konnte, kam hierher, um sich mit kalten Bädern und viel gutem Glauben von dieser Schwindsucht sanieren zu lassen. Blasse Gestalten liefen durch ein Dorf, dies ganz von ihrer Hoffnung lebte. Auf die eine oder andere Art arbeiteten weitestgehend jedweder für jedes dies Sanatorium, lieferten Speisen oder führten Theaterstücke für jedes die Kranken uff.