Bildungschancen: Die Mittelschicht will gar keine Bildungsgerechtigkeit

Vom Ziel einer echten Bildungsgerechtigkeit ist Deutschland weit entfernt. Und das ist durchaus politisch gewollt, schreibt der Ökonom Georg Cremer. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands analysiert meinungsstark und in loser Reihenfolge für ZEIT ONLINE die aktuelle Sozialpolitik.
Im Vorfeld des von
ihr initiierten Bildungsgipfels wählte Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger
drastische Worte: Das deutsche Bildungssystem stecke in einer tiefen Krise:
Lehrermangel, Unterrichtsausfall, fehlende digitale Ausstattung der Schulen und
bauliche Mängel. Das ist ärgerlich für Eltern und Schülerinnen und Schüler. Das
gefährlichste Element der Krise des Bildungssystems ist aber der enge
Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg; er ist enger als in
vielen anderen Ländern. Und dieses Problem verschwindet nicht, wenn alle
Schulfassaden saniert sind und in allen Klassenzimmern die digitale Tafel mit
allen Raffinessen die grüne Kreidetafel ersetzt hat.
Kurz zum Befund: Ein
Fünftel der Jugendlichen kann, wie die internationale Schulleistungsstudie Pisa
zeigt, am Ende der Schulpflichtzeit eigentlich nicht richtig lesen und ist auf
eine Ausbildung ungenügend vorbereitet.
Etwa sechs Prozent der Jugendlichen haben am Ende ihrer Schulzeit keinen
Schulabschluss – diese Zahl ist seit zehn Jahren völlig unverändert. Und viele, die einen Abschluss in der Tasche haben, können dennoch nicht
richtig lesen und rechnen. Etwa 630.000 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren
sind weder in Schule noch in Ausbildung oder Beschäftigung.
Der enge
Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg wird allseits
beklagt. Fraglich scheint allerdings zu sein, ob die bürgerliche Mitte, die
diesen Zustand als ungerecht empfindet, daran wirklich etwas ändern will. Denn
sie pocht – auch aufgrund irrealer Abstiegsängste – zugleich auf soziale
Distinktion. Eine stärkere Durchmischung der Schülerschaft nach sozialer
Herkunft würde auf ihren Widerstand stoßen. Das Gymnasium ist sakrosankt. Die
Zweigliederung des Schulsystems zwischen Gymnasium und einer nicht gymnasialen
Schulform, die sich in fast allen Bundesländern herausgebildet hat, ist die
politische Antwort auf das Elend der Hauptschule, ohne das Gymnasium anzutasten
und damit politisch höchst riskante Konflikte einzugehen. Die bildungsbürgerlichen
Eltern opfern die Perspektiven ihrer Kinder nicht auf dem Altar der Gleichheit.
Schulfrieden gelingt nur mit guten Schulen für alle.
Bleiben die
Schulstrukturen unverändert, so ist es das Mindeste, Schulen in sozialen
Brennpunkten beziehungsweise mit einem hohen Anteil von Kindern aus belasteten Familien
zielgenau zu unterstützen, damit sie kompensatorisch wirken können. Da gibt es
im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung erfreuliche Ansätze. Sie will gemeinsam
mit den Ländern in einem Startchancen-Programm etwa 4.000 Schulen mit einem
hohen Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien mit einem
Chancenbudget zur freien Verfügung und Stellen für Schulsozialarbeit
unterstützen (PDF). „Zielgerichtete
Bildungspolitik heißt für uns: Weg von der Gießkanne“, sagte die
Bundesbildungsministerin vor Kurzem im Bundestag.
Die Gießkanne wird zum Sinnbild
Das wird schwer
werden, auch wenn es derzeit bereits einige eher zaghafte Ansätze zu einer
sogenannten sozialindexbasierten Ressourcenzuweisung an Schulen gibt. Denn die Gießkanne versinnbildlicht
das Gerechtigkeitsideal der breiten Mitte. Das zeigt das ifo-Bildungsbarometer
2019, eine repräsentative Befragung von Erwachsenen in Deutschland. Der
Informationsstand über die bestehende Bildungsungleichheit ist erstaunlich gut,
sie wird als problematisch und ungerecht angesehen. 95 Prozent der Befragten halten es für
sehr wichtig oder wichtig, allen Kindern ein möglichst hohes Bildungsniveau zu
ermöglichen, ein ähnlich hoher Anteil will die Förderung von Kindern aus armen
Familien. 70 Prozent betonen aber, dass es besser wäre, mehr staatliche Mittel für
Kinder aus schlechter gestellten Familien bereitzustellen.
Allerdings zeigen
sich Menschen in den meisten Befragungen großzügig, solange sie nicht zugleich
nach den Kosten befragt werden. Um die impliziten Kosten einer gezielten
Förderung abzubilden, sind die Befragten auch vor die Wahl gestellt worden, ob
sie dafür sind, den höheren Mitteleinsatz spezifisch benachteiligten Kinder
zugutekommen zu lassen oder lieber gleichmäßig allen Kindern. Wird die Frage so
gestellt, dreht sich das Bild. Etwa 70 Prozent sprechen sich dann für einen
Mitteleinsatz „mit der Gießkanne“ aus – also, dass alle Kinder profitieren sollen und nicht nur jene, die es am nötigsten haben. Es macht dabei auch keinen Unterschied, ob es
sich um Kindertagesstätten, Grundschulen oder weiterführende Schulen handelt (PDF).
Wenn die
Bildungspolitik also wirklich Ernst machen will mit der Ankündigung,
Brennpunktschulen mit Geld und Personal deutlich besser auszustatten, dann
braucht sie Mut. Denn dann verteilt sie staatliche Mittel ungleich, nicht
willkürlich, sondern aus wohlüberlegten Gründen, um die krasse Ungleichheit der
Bildungschancen zu mildern, die sich sonst noch weiter verfestigen. Herausfordernd wird
sein, dafür die Zustimmung der bildungsaffinen bürgerlichen Mitte zu gewinnen.
Bildungspanik und Nullsummendenken
Der Blick zurück zeigt, warum: Seit den 1960er-Jahren gelang mit der sogenannten Bildungsexpansion ein stetiger
Ausbau der Qualifikation der Bevölkerung; auch damals ging es darum, einen
engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildung zu lockern. Heute
aber ist diese Aufgabe ungleich schwieriger. Damals musste man „nur“ die
sonderbare Vorstellung aufgeben, das Gymnasium sei allein für die Kinder von
Ärzten, Rechtsanwälten und ihresgleichen geschaffen. Als dies ausgeräumt war, öffneten
sich die weiterführenden Schulen für die vielen Kinder der nicht akademischen
Leistungsträger, denen im Elternhaus Aufstiegsorientierung vermittelt wurde und
die in ihren Familien bildungsorientierte Rollenbilder fanden.
Ein Abbau der
Bildungsblockaden von heute braucht aber mehr. Er wird nur gelingen, wenn die sozialen Dienste
Familien in prekären Lebenslagen deutlich früher erreichen. Da ist es
kontraproduktiv, dass ein erheblicher Anteil der neun Milliarden Euro, die der
Bund den Ländern zur Qualitätsverbesserung der Kitas zur Verfügung gestellt hat
und stellt,
für die allgemeine Gebührenfreiheit verwandt wurde und wird. Das entlastet Familien
der Mitte und der gehobenen Mitte, hilft aber armen Familien nicht, da sie in
aller Regel keine Kitagebühren zahlen. Ihre Kinder würden von besserer
Qualität und von mehr Personal profitieren, das sie individuell fördern kann.
Zudem wurde auch in den Sechzigerjahren mehr Bildung für die weniger Privilegierten nicht als Bedrohung empfunden. Dass die Mitte schrumpft und
schrumpft, zählt heute, obwohl es nicht stimmt, zum
gefestigten Allgemeinwissen. Das erzeugt Bildungspanik und Nullsummendenken, so
als müssten, was die einen gewinnen, andere verlieren. Vielleicht ist das das
größte Hemmnis für mehr Bildungsgerechtigkeit. Denn bürgerliche Eltern, die von
der Sorge geplagt werden, ihre Kinder könnten nicht mehr mithalten, sind in
ihrem Innersten ganz froh, wenn keine zusätzliche Konkurrenz heranwächst.
Kann der Mangel an Arbeitskräften, der heute nicht mehr allein ein
Fachkräftemangel ist, das Blatt wenden? Klar, wenn mehr Bildungsgerechtigkeit
gelingt, verändert sich auch der Wettbewerb um begehrte Stellen, das lässt sich
nicht vermeiden. Es wird dann Menschen aus der bürgerlichen Mitte geben, die
bei der Bewerbung um eine Stelle gegen Mitbewerber unterliegen, die sie nicht
hätten herausfordern können, wenn Bildungsaufstiege für Menschen aus
benachteiligten Milieus weiterhin so schwer sind wie heute. Aber dann finden
sie eben eine andere Stelle, die ihren Qualifikationen entspricht.
Düster jedenfalls wird unser Blick in die Zukunft, wenn das
Bildungssystem dabei versagt, die humanen Grundlagen für ein wirtschaftlich
leistungsfähiges Land zu sichern. Dann leidet auch die gesellschaftliche Mitte.