Benjamin Netanjahu: Netanjahu vs. Israel

Benjamin Netanjahu galt nie als Freund der politischen Linken − und dazu scheint für ihn mittlerweile die Mehrheit aller Israelis zu gehören. „Wenn in Amerika und in Israel ein starker rechter Führer eine Wahl gewinnt, setzt der linke deep state das Justizsystem ein, um den Willen des Volkes zu untergraben. Sie werden in beiden Ländern nicht gewinnen! Gemeinsam sind wir stark“, postete er Mitte der Woche auf dem offiziellen Account des Ministerpräsidenten bei X. Der Beitrag wurde kurz darauf gelöscht, um auf Netanjahus privatem Account wieder aufzutauchen.

Zweifellos lässt sich Netanjahu von US-Präsident Donald Trump inspirieren. Offen aber ist, ob sich der Premier eineinhalb Jahre nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober tatsächlich einen Gefallen damit tut, die politische Lage in den USA mit der in Israel zu vergleichen.

Wie Umfragen seit Jahren belegen, rückt die Mehrheit der Israelis konstant nach rechts. Anders als in den USA sind progressive Stimmen kaum zu hören − und seit dem Massaker so gut wie gar nicht mehr. Allerdings: Wie aktuelle Umfragen zeigen, wollen mit 70 Prozent der Befragten die allermeisten Israelis eine Verlängerung der Waffenruhe. Selbst Israels Staatspräsident Izchak Herzog, der qua Amt eigentlich nur repräsentative Aufgaben erfüllt, nahm sein Land gegen Netanjahu in Schutz: „Es ist unvorstellbar, unsere Söhne an die Front zu schicken und gleichzeitig kontroverse Maßnahmen zu fördern, die die Spaltung der Nation vertiefen“, sagte Herzog am Donnerstag.

Netanjahus Attacken gegen Kritikerinnen und Kritiker mögen nicht neu sein. Die Konfliktlinien aber haben sich verändert. Vor dem Hamas-Angriff vertrauten die meisten Israelis Netanjahu zumindest in Sicherheitsfragen, trotz aller innenpolitischen Kritik. Doch in der aktuellen Lage könnten sich beide Ebenen potenziell vermischen.

Jetzt ist der Krieg zurück

Zehntausende Menschen protestierten diese Woche in Tel Aviv und Jerusalem – gegen den Krieg, vor allem aber gegen die Entlassung von Ronen Bar, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Der Schin Bet ermittelt aktuell, ob im Umfeld Netanjahus Geld aus Katar angenommen wurde, um das Bild des Emirats in Israel zu verbessern. Katar gilt als Vermittler und Unterstützer der Terrororganisation Hamas. Und wie zuerst die Zeitung Ha’aretz berichtete, soll Ronen Bar Monate vor dem 7. Oktober 2023 Netanjahu vor der Hamas gewarnt haben − aber ignoriert worden sein.

Die Polizei soll laut Berichten von Protestierenden aggressiver denn je vorgegangen sein. Und viele glauben, das könnte damit zusammenhängen, dass Itamar Ben-Gvir zurück im Amt ist. Der vorbestrafte Innenminister aus dem rechtsextremen Lager von Netanjahus Koalition hatte aus Widerstand gegen die Ende Januar vereinbarte Waffenruhe seinen Rücktritt erklärt. Jetzt ist der Krieg zurück, Netanjahu hat durch Ben-Gvir und seine Partei erneut eine stabilere Regierungsmehrheit. Die hilft bei bevorstehenden Budgetentscheidungen und sorgte auch dafür, dass Bars Entlassung am Donnerstag im Kabinett durchgewinkt wurde. Das oberste Gericht stoppte am Freitag die Entlassung allerdings vorläufig, unter anderem auf Betreiben der Opposition, und will die Argumente der Parteien anhören.

Netanjahus jüngste Manöver kritisieren überraschend viele israelische Kommentatoren eindeutig. „Mit einem Schlag hat Premierminister Benjamin Netanjahu seine dringendsten persönlichen und politischen Probleme gelöst“, urteilte etwa David Horowitz, Gründungsherausgeber der Times of Israel, und fragte: „Was ist mit den Problemen Israels?“ Besagte Probleme bestimmen weiterhin den öffentlichen Raum und die meisten Medienberichte: 59 israelische Geiseln befinden sich noch in Gefangenschaft der Hamas, nur 24 davon sollen noch am Leben sein. Ihre Fotos hängen überall, auf Postern entlang der Schnellstraße, auf Plakaten in Cafés. Manche vergilben schon.

Verhandlungen nur noch „unter Feuer“

Derweil bemühen sich viele, die im Zuge der ersten Phase der Waffenruhe freigekommen sind, über die Gräuel aufzuklären, die sie erlebt haben. „Wenn Sie von humanitärer Hilfe sprechen, bedenken Sie dies: Die Hamas-Terroristen essen wie die Könige, während die Geiseln verhungern. Die Hamas bestiehlt die Zivilbevölkerung“, sagte etwa Eli Sharabi in einer Rede am Donnerstag vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. Das Schicksal von Sharabi berührte die Israelis besonders: Während der von der Hamas perfide inszenierten Übergabe sagte der sichtbar abgemagerte 53-jährige Familienvater, dass er sich darauf freue, seine Frau und die beiden Töchter wiederzusehen. Sharabi wusste nicht, dass Hamas-Terroristen die drei am 7. Oktober brutal ermordet hatten.

Die Überlebenden der Hamas-Gefangenschaft widersprechen geschlossen der Wiederaufnahme des Gazakriegs, bilden damit eine neue Opposition gegen Netanjahu. Als dieser diese Woche erklärte, dass es Verhandlungen mit der Hamas nur noch „unter Feuer“ geben werde, empörte sich etwa die frühere Wehrdienstleistende Liri Albag in den sozialen Medien: Mit dieser Methode riskiere Israel das Leben der Geiseln. Auch Albags Schicksal bewegte in Israel besonders: Wie andere Freigelassene berichteten, soll sich die gerade erst 19-Jährige den Terroristen der Hamas resolut entgegengestellt und sie mit ihrer Stärke eingeschüchtert haben.

Aber während der Widerstand gegen Netanjahu und den Gazakrieg so umfassend erscheint wie nie zuvor, kündigt seine Regierung bereits die nächste Eskalation an. Verteidigungsminister Israel Katz habe die Armee angewiesen, „zusätzliches Territorium im Gazastreifen zu erobern“, sagte er am Freitag. Der Hamas drohte Katz, dass sie „immer mehr Territorium verliert, das an Israel angegliedert wird, solange sie sich weigert, mehr Geiseln freizulassen“.