Ballett in Kopenhagen: Die Schönheit ist dem Menschen zumutbar
Es gibt kaum etwas Intimeres im Tanz, als die Begleitung einer Choreographie mit Klaviermusik. Denn dann spielt jenes Instrument, das in jeder Klasse, bei jedem Training, in jeder Probe zu hören ist, das Instrument, zu dem Kinder im Ballettunterricht zum ersten Mal tanzen, das Instrument, das in Proben von „Schwanensee“ ein ganzes Orchester ersetzt. Kein Instrument ist Tänzern näher als dieses, kein Instrument kennt die Tänzer besser, ungeschminkt, schweißtriefend, nach Atem ringend, in ihren ältesten Trainings-Trikots, morgens früh oder spätabends bei den letzten Proben, mit Wollmütze auf dem Kopf, wie Rudolf Nurejew sie im Ballettsaal trug. Das dem am nächsten kommende, zugleich am seltensten in Aufführungen zu hörende Begleitinstrument des Tanzes aber ist die Stimme. Fehlt der Repetitor, singt der Ballettmeister auch schon mal selbst im Unterricht.
Klavier beginnt, Gesang endet Alexei Ratmanskys Choreographie von Johann Sebastian Bachs „Die Kunst der Fuge“, von der nur vermutet werden kann, dass sie für Cembalo gedacht war. Ratmansky wechselt im Laufe des Stücks die Instrumentierung – vom Klavier über das Blechblasquintett zum Cembalo und Streichtrio. Seine sehr besondere Wahl der Instrumentierung betont die präzisen Unterschiede zwischen den einzelnen non-narrativen tänzerischen Akten. Zugleich macht sie eine tiefkonzentrierte, mitunter als technisch-wissenschaftlich empfundene Musik theatralischer, abwechslungsreicher, zugänglicher für das Publikum.
Bühnendunkel umhüllt die Pianistin und ihren Flügel
Weder die Musik noch der Tanz Ratmanskys wollen Geschichten erzählen. Es solle aussehen, als erzeugten die Bewegungen die Musik, hat der Choreograph dem Ensemble nahegelegt. Und so fühlt es sich tatsächlich an, während man diesem historisch unterfütterten, evokativen Ballett folgt. In den ersten Fugen, die ein und dasselbe Thema haben, in seiner Originalgestalt oder Spiegelung, aber ein Thema, ist der Tanz noch im goldenen Zeitalter seiner Moderne. Die Frauen tragen glänzende kurze Kleider, die Männer kurze dunkelkupferfarbene Trikots mit langen Armen, ihre Beine sind nackt. Das Bühnendunkel umhüllt die Pianistin und ihren Flügel, eine geometrische Skulptur kreist über der Spielfläche.
Vier Frauen auf Spitze tanzen als Erste, viele leicht aussehende Balancen, bei denen der Spielbeinfuß an den Knöchel des Standbeins auswärts angelegt wird, viel travelling, bei dem die Ballerinen auf Spitze nähmaschinennadelschnell aufsetzen, sodass der Eindruck entsteht, sie glitten wie Schlittschuhläuferinnen über die Bühne. Mit den wie bei den „Vier kleinen Schwänen“ verschränkten Händen schreiten sie nach hinten und schauen uns, in dem sie sich weit beugen, über Kopf noch einmal an. Schließlich legen sie einander die Hände auf die Schultern. Ganz bei einander, entziehen sie sich unseren Blicken.

Als nächstes erscheinen vier Männer, zeigen Präparationen und Port de bras. Ein Tänzer hält eine lange Balance inAttitude, die anderen gehen ab. Nach und nach treten drei Frauen zu dem Mann, der zunächst ein Solo getanzt hatte. Das Thema der drei Variationen ist die Tänzerzahl 4. Die Konstellation ähnelt nun George Balanchines „Apollon“. Am Ende sitzt der Mann am Boden und die drei Frauen tauchen in tiefe Arabesques Penchées, Spielbein zum Himmel, andere Hand und Kopf neigen sich Richtung Boden. Alles passiert so leicht und schnell. Klar, dass danach die Situation drei Männer und eine Frau zeigt und leichthändig das Rosen-Adagio aus „Dornröschen“ streift, indem die Frau sich jeweils von einem Mann in der Pirouette halten lässt. Danach echoen sie die Schritte der Frau, am Ende heben sie sie weg.
Formenreichtum tänzerischer Metamorphosen
So geht es weiter und schreitet doch stetig fort zu anderen Formen, zu Grand Pas de Deux, in denen Mann und Frau zusammen und abwechselnd einzeln tanzen, bis sie am Ende wieder zusammenkommen, zu großen, düsteren, in Anthrazitgrau gefärbten Szenen mit Corps de ballet, deren Tänze etwas Geisterhaftes haben und die Romantik heraufrufen. Das Interessante ist dieser unglaublich gut geordnete, immer wieder überraschende Formenreichtum tänzerischer Metamorphosen. So trägt mancher Mann seine Ballerina weg, in dem er sie schräg nach unten hält, und fast wie ein Surfbrett unter dem Arm hat. Das sieht aber nicht witzig aus, sondern athletisch interessant wie eine Skulptur, die zwei Partner bilden. Das ganze Miteinander ist ohnehin sachlich, aber freundschaftlich.
Man fragt sich nicht, was die Beziehungen vielleicht sind, man bewundert, wozu sie zusammen imstande sind. Das ganze abwechslungsreiche, elegante Hin und Her erzeugt im Betrachter einen allerdings glücklichen Zustand visuell-auditiver Überforderung. Was Robert Schumann in Bezug auf Bachs Tripelfuge bemerkte, es zerreiße einen beim Hören, das gilt für das Verfolgen nicht weniger Passagen dieser komplexen und doch so natürlich wirkenden, die Musik souverän umspielenden und den Zeitenabstand vergessen machenden Choreographie.
Einladend, charmant und dabei nie seicht
Noch dazu hat Ratmansky selbst gestanden, den Plan, die kontrapunktischen Verfahren choreographisch abzubilden, schnell aufgegeben zu haben. In dem Tempo, in dem sich die Szenen hier abspielen, ist fraglich, wie schnell die Spiegelung kompositorischer Prinzipien in der Choreographie beim ersten Sehen zu erfassen gewesen wäre. Charles Dickens’ Protagonistin Esther Summerson zeigt in „Bleak House“ eine Haltung, die angesichts der „Kunst der Fuge“ inspirieren kann: „Etwas rasch zu begreifen, ist ganz und gar nicht meine Art. Nur wenn ich jemanden sehr gern habe, ist es anders“ – etwas sehr gern haben, wäre das in diesem Fall, das Ballett. Das Einladende, Charmante, und dabei nie Seichte, sondern Ernsthafte des Stücks verhindert, dass die erforderliche Konzentration auf die kinästhetischen Prozesse ermüdet.
Das Gold der Kostüme, der Goldstandard der klassischen Technik, die hier auf neue Weise erfahren wird, leuchtet jedoch stets vor einer Dunkelheit. Die Welt und ihre beunruhigenden Zustände finden hier zwar keinen eindeutigen Eingang in das Theater. Es ist aber eine Kunsterfahrung, die auf dem Dennoch besteht, darauf, dass es wichtig ist, an der Fähigkeit des Menschen zum Erschaffen von Schönheit festzuhalten. Dass es ein Spiel ist, heißt nicht, dass es den Menschen nicht daran erinnert, was Harmonie, was Frieden, was Leichtigkeit des Seins ist, wie es sich anfühlt, mit anderen im Einklang zu sein, oder sich getragen und gehalten zu wissen, wie es etwa die schönen Duette demonstrieren.
Dass die Uraufführung dieses großartigen neuen Balletts im November 2025 beim Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen stattfindet, war ursprünglich nicht geplant. Die erste Hälfte der Choreographie entstand in Moskau mehr als drei Jahre zuvor. Als Putin 2022 die Ukraine überfiel, erfuhr Alexei Ratmansky davon, während er in einem der Säle des Bolschoi Balletts probte. Nur Stunden später hatte er Moskau verlassen und den Plan verworfen, die „Kunst der Fuge“ dort zur Premiere zu bringen. Das Bolschoi Ballett, dessen Direktor er von 2004 bis 2008 gewesen war, und für das er auch danach einige Werke schuf, hat seinen Namen aus allen Veröffentlichungen getilgt, führt aber seine Ballette weiterhin auf, ohne Lizenz, ohne Legitimation, ohne Namensnennung. Viele Freunde habe er verloren durch die Abwendung von Russland, hat Ratmansky in Kopenhagen gesagt. Und die Möglichkeit, mit einem der besten Ballettensembles der Welt zu arbeiten. In Kopenhagen ist er trotzdem kein Fremder, denn bevor er das Bolschoi Ballett übernahm, tanzte er von 1997 bis 2003 beim Königlich Dänischen Ballett, weil er die dort traditionelle Bournonville-Technik liebte und beherrschen wollte.
Jetzt muss das Königlich Dänische Ballett noch ein bisschen hinweinwachsen in den komplexen Ratmansky-Stil. Die New York City Ballet-Solistin Sarah Mearns schwärmte „Die ganze Atmosphäre auf der Bühne ist bei Alexei so magisch, ich liebe es, wenn ein Ballett keine Handlung hat, ich aber, während ich es tanze, eine Geschichte mit meinem Tanz erfinden darf“. Der Mut dazu muss langsam wachsen. Über dem alten Königlichen Theater weht an diesem Abend die ukrainische Flagge und die Königin saß in ihrer Loge.
Source: faz.net