Außenpolitik: Wer gegen Putin da sein will, braucht Stütze aus Wanne-Eickel
Je länger ein Regierungschef im Amt war, desto mehr kümmerte er oder sie sich um den Rest der Welt, also die Außenpolitik. Die Regel galt früher; bei Friedrich Merz ist es umgekehrt. Der Kanzler ist seit fünf Wochen im Amt – erst seit fünf Wochen! – und war in dieser Zeit oft unterwegs, zuletzt sogar im Oval Office. Dabei hat Merz meist eine gute Figur gemacht. In Deutschland hingegen ist er seit seinem Amtsantritt noch nicht so viel herumgekommen.
Für die internationale Umtriebigkeit gibt es gute Gründe. Ukraine, Gaza, Zollpolitik, man braucht nur die Nachrichten einschalten. Außerdem führten die meisten Reisen des Kanzlers zu europäischen Nachbarn. Olaf Scholz und die Ampelregierung hatten hier viel Ratlosigkeit hinterlassen. Merz will diese Lücke möglichst schnell schließen. Auch das ist richtig. Und trotzdem wird es nicht reichen, nach Washington zu reisen, aber Wanne-Eickel zu meiden.
Warum? Das kann man gerade gut in Frankreich verfolgen.
Emmanuel Macron war immer schon ein rastloser Präsident, ein Jean Dampf in allen Gassen. In den vergangenen Wochen konnte man kaum noch folgen, welche internationale Konferenz er gerade ausrichtet, welches Land er gerade besucht. Macron war mit Merz vor vier Wochen in Kyjiw. Er war danach in Vietnam, in Indonesien, in Singapur, in Rom. Am vergangenen Wochenende hat er sogar dem Fürstentum Monaco einen Staatsbesuch abgestattet, als erster französischer Präsident seit 41 Jahren. In Nizza findet in diesen Tagen die dritte Ozeankonferenz der Vereinten Nationen statt, Macron hat sie eröffnet. In der kommenden Woche fliegt er nach New York, um dort gemeinsam mit Saudi-Arabien eine große Nahostkonferenz zu leiten. Frankreichs Präsident drängt darauf, Palästina als unabhängigen Staat anzuerkennen.
Aber alle Reisen um die Welt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Macron ein schwacher Präsident geworden ist. Fast wirkt es so, als fliehe er vor dieser Einsicht. Und vor der Erinnerung an seine folgenreichste Entscheidung.
Wie stark ein Regierungschef im Ausland ist, entscheidet sich zu Hause
Vor einem Jahr, am 9. Juni, dem Tag der Europawahl, hatte Macron ohne jede Vorankündigung entschieden, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen herbeizuführen. Seine eigene Partei verlor die Wahl haushoch, der nationalistische Rassemblement National wurde zur stärksten Partei. In Frankreich erinnern gerade viele Bücher, Dokumentationen und Zeitungsartikel an diesen fatalen Moment. Denn mit seiner einsamen Entscheidung hat Macron nicht nur sich selbst den politischen Boden unter den Füßen weggezogen. Frankreich ist seitdem de facto unregierbar geworden. Das Parlament ist blockiert, ein erster Premierminister wurde schnell gestürzt. Der Neue taumelt. Kaum ein Gesetz wurde in den vergangenen Monaten verabschiedet; schon gar keine nennenswerte Reform. Infolgedessen hat sich ein großes, grundsätzliches Misstrauen über das Land und seine Politik gelegt.
Das Meinungsforschungsinstitut Cevipof und die Universität Sciences Po untersuchen seit 15 Jahren das Vertrauen der Französinnen und Franzosen in die Politik. Das Ergebnis ihrer jüngsten Studie: Selten war das Misstrauen größer. Insgesamt 74 Prozent der Befragten geben an, dass sie grundsätzlich kein Vertrauen mehr in „die Politik“ haben; nur noch 23 Prozent vertrauen der Regierung. Die politische Klasse sei den Franzosen fremd geworden, sagt Bruno Cautrès, einer der Autoren der Studie: „Als hätten sie den Vorhang zwischen sich und der Politik zugezogen und sich gesagt, dass es nichts mehr zu hoffen gibt.“ Das Land befinde sich „in einer Sackgasse„.
Was bedeutet das für Macrons internationales Engagement? Auf den ersten Blick scheinen seine diplomatischen Initiativen von der heimischen Malaise unberührt zu sein. Frankreichs Präsident hat in der Außenpolitik weitgehend freie Hand; selbst wenn er Truppen entsenden will, muss er niemanden fragen. Doch der Eindruck täuscht. Außen und innen lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Um den Kampf gegen Wladimir Putin zu bestehen oder das Kräftemessen mit Donald Trump, um ganz grundsätzlich den Konflikt mit den Autoritären zu führen, dafür brauchen Europas Demokratien Überzeugung und innere Stärke. Das gilt genauso für die wirtschaftliche Konkurrenz mit China und für das Ringen um europäische Unabhängigkeit. Aber ohne ein Mindestmaß an Vertrauen – in den Staat, in seine Institutionen, in die handelnden Akteure – gibt es keine innere Stärke. Wer sich selbst misstraut, wird zur leichten Beute.
Ein Bundeskanzler kann zum Glück keine Neuwahlen ansetzen. Das bewahrt Merz vor einem Fehler, den Macron begangen hat. Das schlechte Beispiel des Franzosen sollte ihm dennoch als Mahnung dienen. Wie stark ein Präsident oder ein Kanzler international agieren kann, entscheidet sich zu Hause. Und Vertrauen ist gerade ohnehin rar. Um aber in der Welt erfolgreich zu sein, braucht der Kanzler den Rückhalt aus Wanne-Eickel.