Auf der Buchmesse in Turin: Am Ende streiten alle mit allen

Es war der Kulturstaatssekretär Vittorio Sgarbi, der am Ende des Salone Internazionale del Libro in Turin die aggressive Tonlage zu entschärfen versuchte, die in diesem Jahr prägend für Italiens wichtigste Buchmesse war. Er erzählte, er habe den scheidenden Messedirektor Nicola Lagioia angerufen und gefragt, wie er die vergangenen Tage erlebt habe: „Lagioia antwortete: ‚Es ist gut gelaufen, alle haben sich geärgert.‘“ Die Lacher im Saal waren Sgarbi gewiss.

Anfang der Woche ist die fünfunddreißigste Ausgabe der Turiner Buchmesse zu Ende gegangen und mit ihr die Amtszeit von Nicola Lagioia. Der Schriftsteller, von dem gerade „Die Stadt der Lebenden“ (btb Verlag) auf Deutsch erschienen ist, hatte 2016 die Leitung der Buchmesse übernommen und sie zu einem Fest von internationaler Strahlkraft gemacht, das jetzt mit 213.000 Besuchern einen neuen Rekord verzeichnete. Mit ihren vielen öffentlichen Lesungen und dem reichen Rahmenprogramm erinnert sie an die Buchmesse in Leipzig. Auch verkauft werden darf auf der Messe in Turin. Deren neue Direktorin ist die 47-jährige Journalistin und Schriftstellerin Annalena Benini. Womöglich stehen ihr herausfordernde Jahre bevor, denn Italiens Kulturwelt befindet sich im Umbruch.

Der Schriftsteller Nicola Lagioia war von 2016 bis 2023 Direktor der Buchmesse Turin

Der Schriftsteller Nicola Lagioia war von 2016 bis 2023 Direktor der Buchmesse Turin : Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Jahrzehntelang wurde sie vor allem von Persönlichkeiten bestimmt, die sich dem linken Milieu zurechnen. Nun aber hat das Land eine neue Regierung, die am weitesten rechts stehende seit dem Zweiten Weltkrieg. In die Sphäre der Kultur drängen zunehmend neue Themen, Denkströme, Sprechweisen sowie Menschen, die bisher gar nicht dabei waren oder höchstens in zweiter Reihe standen. Die Vorbehalte sind auf allen Seiten groß, und das zeigte sich auch auf der Messe, wo nie zuvor so kontrovers diskutiert und so viel gestritten wurde wie in diesem Jahr. Vor allem auf den Bühnen der großen Zeitungen wie „La Stampa“ oder „La Repubblica“ ging es hart zur Sache, wurde über Meinungsfreiheit und die national fest im Sattel sitzende Regierung Meloni debattiert – und über die ihr vermeintlich oder tatsächlich innewohnende faschistische Gefahr.

Erst nach Frankfurt einladen, dann wieder ausladen

Wegen des Eklats um den Physiker und Autor Carlo Rovelli hatten die Nerven schon blank gelegen, bevor Senatspräsident Ignazio La Russa (er zeigt Journalisten gern seine Sammlung von Mussolini-Büsten) und Kulturminister Gennaro Sangiuliano, beide Parteimitglieder von Melonis „Brüder Italiens“, die Messe eröffneten. Rovelli, von dem einige Werke in deutscher Übersetzung bei Rowohlt erschienen sind, war als Redner für die Auftaktveranstaltung der Frankfurter Buchmesse 2024 vorgesehen, bei der Italien Ehrengast sein wird. Seine harsche Kritik an Verteidigungsminister Guido Crosetto auf einer Gewerkschaftsbühne am 1. Mai in Rom hatte jedoch genügt, um ihn zur Persona non grata zu erklären – und ihn wieder von der Frankfurter Buchmesse auszuladen. Wenn jemand wie Rovelli Italien in Frankfurt vertrete, könnte das zu institutionellen Peinlichkeiten führen, begründete Ricardo Franco Levi, der Präsident des italienischen Verlegerverbandes, der auch der Regierungsbeauftragte für den Ehrengastauftritt ist, die Entscheidung. Der Aufruhr in Italiens Verlagswelt und einigen politischen Parteien war gewaltig. Der Kulturminister distanzierte sich von Levi, woraufhin der die Einladung an Rovelli, nach Frankfurt zu kommen, kurz vor dem Auftakt der Turiner Messe erneuerte.

Der Zensurversuch war das große Gesprächsthema zwischen den Ständen. Bis ein anderes Ereignis für Druckwellen sorgte: Italiens Ministerin für Familie, Geburtenrate und Chancengleichheit, Eugenia Roccella, bekannt für ihre Anti-Abtreibungs-Position („Ist Abtreibung ein Recht der Frau? Leider ja“), wurde durch den anhaltenden Protest von Aktivisten daran gehindert, ihren autobiographisch gefärbten Roman „Una famiglia radicale“ („Eine radikale Familie“, Rubbettino Verlag) vorzustellen. Lagioias Versuch, einen Dialog zwischen der Ministerin und den Demonstranten herzustellen, scheiterte an der Weigerung von Letzteren. Womöglich wäre die Situation noch zu retten gewesen, wenn Augusta Montaruli, eine Abgeordnete der „Brüder Italiens“, sie nicht zum Anlass genommen hätte, den Direktor vor laufenden Kameras wüst zu beschimpfen. („Sie sind eine Schande! Das ganze Geld, das Sie nehmen! Wir werden feiern, wenn Sie endlich weg sind!“) Lagioia verließ daraufhin die Szenerie. Seitdem nimmt der polemische Schlagabtausch zwischen Kulturschaffenden, Opposition und Regierungsmitgliedern nicht ab. Die einen werfen Lagioia vor, er, der „linke Schriftsteller“, sei als Messedirektor nicht entschieden genug für das Rederecht der rechten Ministerin eingetreten. Andere tönen, Italiens Rechte wolle einem autoritären Umgang mit Dissens Vorschub leisten, der dem Prinzip von Meinungsfreiheit widerspreche.

Vielleicht ist Italiens Kulturwelt die vergangenen Wochen zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um den Blick schon konzentriert nach Frankfurt richten zu können. Was man in Turin über den geplanten Ehrengastauftritt Italiens erfuhr, klang jedenfalls recht dünn. Kulturminister Sangiuliano kündigte an, die fünf besten Architekturabsolventen mit dem Entwurf des italienischen Pavillons betrauen zu wollen, die Philharmoniker der Scala werden ein Konzert in Frankfurt geben und, klar, Literaturübersetzungen ins Deutsche sollen gefördert werden. Wie fruchtbar solche Unterstützungen sein können, zeigt der Erfolg von Lisa Krusches Jugendroman „Das Universum ist verdammt groß und supermystisch“, dessen Übertragung ins Italienische das Goethe-Institut gefördert hatte. Die 33-jährige Schriftstellerin wurde jetzt in Turin mit dem Literaturpreis Premio Strega Ragazze e Ragazzi in der Kategorie „Bestes Debüt“ geehrt.

An diesem Freitag hat nun Ricardo Franco Levi seinen Rücktritt als Sonderbeauftragter für die Frankfurter Buchmesse bei Kulturminister Gennaro Sangiuliano eingereicht. Nach der Kontroverse über die Teilnahme von Carlo Rovelli hatte sich heute überraschend eine neue Front aufgetan. Wie die italienische Zeitung „Libero“ berichtet, habe Levi das Marketing und die Kommunikation für den Ehrengastauftritt Italiens bei der Buchmesse 2024 dem belgischen Unternehmen IFC Next übertragen. In der Firma arbeitet Levis Sohn.

Source: faz.net