Argentinien: Neffe regiert, Onkel leidet
An einem Montagmorgen, es ist kurz vor sieben, steckt Juan José Milei im Osten von Buenos Aires Zeitungen in eine rote Umhängetasche. Diario Popular, Clarín, La Nación. Auf den Titelseiten geht es an diesem Tag im März um den argentinischen Präsidenten: „Milei spielt die Sache mit dem Kryptogate herunter“, „Milei versucht, den Skandal zu relativieren“, „Milei rechtfertigt erneut sein Handeln in der Kryptogate-Affäre“. Am Abend zuvor war der Präsident Javier Milei in einem Fernsehinterview zu seiner Rolle in einem Skandal um eine Kryptowährung befragt worden, bei dem Anleger Millionen verloren hatten. Juan José liest seinen eigenen Nachnamen und schüttelt den Kopf: „Das ist mein Neffe“, sagt er.
Als Javier Milei, Juan Josés Neffe, Ende 2023 zum Präsidenten Argentiniens gewählt wurde, hatte er eine „Schocktherapie“ angekündigt, auf Bühnen die Kettensäge hochgehalten und versprochen, das Land zu alter Größe zu führen. Nun regiert Milei schon seit eineinhalb Jahren. Und sein Onkel bekommt das am eigenen Leib zu spüren.
Zwei Tage vor dem Treffen mit Juan José hat sein Neffe im Parlament zur Lage der Nation gesprochen. Er hatte Bilanz gezogen und über seine Erfolge gesprochen. Die „guten Argentinier“ seien zu lange zugunsten der politischen Kaste betrogen worden, sagte Milei vor dem Nationalkongress. Und er werde das ändern.
Juan José konnte die Rede nicht verfolgen. Sein Fernseher ist kaputt und einen neuen kann er sich nicht leisten. Und so bekam er auch nicht mit, dass sein Halbbruder Norberto, Javier Mileis Vater, im Publikum saß. Norberto, Beto genannt, und Juan José haben denselben Vater. Beto wurde 1942 geboren, die Eltern trennten sich, mit einer neuen Frau zeugte der Vater einen weiteren Sohn: Juan José, Jahrgang 1960, Spitzname Chicho. „Mit Beto hatte ich das letzte Mal Kontakt, als unser Vater gestorben ist“, sagt Chicho. Das war im Jahr 2005.
Zu seinem Neffen, Javier Milei, hatte Chicho nie ein enges Verhältnis. Mal sahen sie sich auf einer Familienfeier, mal spielten sie gemeinsam Fußball. Später erfuhr Chicho, dass sein Neffe als Professor lehrte. Dass er mal sein Land regieren wollte, davon wusste er nichts. Die Beziehung zu Javier und dessen Familie habe sich nie familiär angefühlt, sagt Chicho, „sondern sehr weit weg“. Er kann also nicht – wie es die Präsidentennichte Mary L. Trump in einem Buch tat – ein familiäres Gefüge beschreiben, das den heutigen Präsidenten erklären würde. Dafür kann Chicho erzählen, wie es ist, im Argentinien von heute, unter der Präsidentschaft seines Neffen, als älterer und armer Mensch über die Runden zu kommen.
„Hallo, guten Morgen, wie geht es dir?“, ruft Chicho am Montagmorgen in einer Tankstelle der Verkäuferin zu. Er überreicht ihr ein Exemplar der Diario Popular, die erste Lieferung des Tages. Sein weißes Polohemd hat auf Brusthöhe ein Loch, die Sohlen seiner Stoffturnschuhe haben sich gelöst. An sieben Tagen die Woche trägt er Zeitungen aus, 10.000 Pesos bekommt er wöchentlich dafür, umgerechnet rund 7,40 Euro. Ein Milchkaffee hier in der Tankstelle kostet 3.000 Pesos. In Argentinien zu leben, ist teuer geworden. Für Menschen wie Chicho ist es kaum noch zu bezahlen.
Seit dem Amtsantritt seines Neffen haben sich die Lebenshaltungskosten mehr als verdoppelt. Javier Milei hat Subventionen, etwa für Strom und Gas, gekürzt. Er schaffte das Mietgesetz ab, in Buenos Aires liegt die Miete für eine 40-Quadratmeter-Wohnung nun im Schnitt bei 400 Euro, 40 Prozent höher als noch vor einem Jahr. Milei stoppte alle öffentlichen Bauaufträge, ließ Behörden schließen und entließ Tausende Staatsbedienstete. Kettensäge eben. Der Staat, so sieht es Miliei, soll sich ausschließlich um Sicherheit und Justiz kümmern, um mehr nicht.
Ein Platzregen. Die Tropfen perlen an Chichos Glatze ab, innerhalb weniger Minuten sind Poloshirt, Hose, Schuhe durchnässt, die Brillengläser beschlagen. „Ich werde heute länger brauchen“, sagt Chicho, als er einer Pfütze ausweicht. Als er seinen Stapel Zeitungen verteilt hat, geht er die wenigen Hundert Meter nach Hause. Im ersten Stock eines früheren Hotels bewohnt Chicho ein kleines Zimmer. Die Toilette liegt auf dem Flur, ebenso die Dusche. In der Küche steht lediglich ein Gasherd. Das Hotel ist inzwischen eine Armenunterkunft.
Trotz der heruntergekommenen Fassade, der wegen Baufälligkeit gesperrten Balkone, der fehlenden Fensterscheiben lässt sich erahnen, dass das Gebäude einmal herrschaftlich gewesen sein muss: In den ersten Stock führt eine marmorne Treppe, die Decken sind hoch, Flügeltüren öffnen sich zu jedem Zimmer. Das Hotel stammt aus jener Zeit, die Javier Milei in seinen Reden immer wieder beschwört: Anfang des 20. Jahrhunderts war Argentinien ein Land der Hoffnung. Es gab Land zu verteilen, die Agrarwirtschaft wuchs, die Industrie entwickelte sich. Hunderttausende Menschen – darunter der Vater von Chicho und Beto, Mileis Großvater – wanderten aus Italien ein, um an dem Wohlstand teilzuhaben.