Architekt und Stadt-Künstler Matthias Sauerbruch zum Siebzigsten
Die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts werden nicht als die experimentierfreudigste Dekade in die Geschichte der deutschen Architektur eingehen. In einem schwierigen architekturpolitischen Klima gelang dem Architekten Matthias Sauerbruch zusammen mit seiner Partnerin Louisa Hutton trotz aller Widerstände in Berlin ein wirkliches Meisterwerk, auf dessen herausragende Qualität sich alle über alle ideologischen Gräben hinweg einigen konnten: In den Neunzigerjahren, als heute dominante Themen wie die nachhaltige Bestandssanierung statt Abriss und Neubau noch kein Thema waren, wurde Sauerbruch + Hutton mit ihrem Baukomplex für die GSW-Hauptverwaltung in Berlin berühmt.
Spoiler über den Dächern Berlins
Um einen Büroturm aus den Fünzigerjahren entstand eine Assemblage aus fünf Baukörpern; ein geschwungener Riegel diente als Sockel, darüber stieg eine schlanke elegante Hochhauscheibe in den Berliner Himmel. Auf der Westfassade gab es in einem Fassadenzwischenraum, der eine natürliche Belüftung ermöglicht, und darüber ein Winddach, das wie eine Skulptur der Nachkriegsmoderne als Spoiler auf dem Dach thront und die Luftzirkulation unterstützt.
Anders als die etwas dickbeinigen Blockrandkisten war hier ein ökologisch intelligenter Bau entstanden, der formal an die filigrane Eleganz der besseren Nachkriegsmoderne anknüpfte. Der Clou des Baus waren die drehbaren Blenden in Rosa, Orange und Rot in der Fassade, die als Sonnenschutz dienen, je nach Wetter immer neu einstellbar waren und das Hochhaus wie ein gigantisches kinetisch aktives Farbfeldbild in der Stadt aussehen ließ: Das Haus stand wie ein modernes Gemälde in der Stadt, das sich wie die Stadt selbst andauernd wandelt.

Einige erklärten sich diese Fähigkeit, mit Farbe umzugehen, mit Sauerbruchs Familiengeschichte – der Vater war ein bekannter Maler und Grafiker, Matthias Sauerbruch selbst wollte zunächst Bühnenbildner werden, studierte dann in Berlin und London Architektur und wurde dort Partner des holländischen Office for Metropolitan Architecture, mit dem er ein viel beachtetes, in der Tradition des Internationalismus stehendes Gebäude am Checkpoint Charlie baute.
Anknüpfen ans „Museion“ in seiner ursprünglichen Bedeutung
Mit seinem eigenen, 1989 gegründeten Büro baute er nicht weit von dort das GSW-Haus, mit dem er sich als Vorreiter einer ökologischen Moderne etablierte. Es folgten wegweisende Projekte wie das Umweltbundesamt in Dessau und das Museumsquartier M9 in Mestre bei Venedig, mit dem Sauerbruch Hutton an die ursprüngliche Bedeutung des „Museion“ anknüpfte, das im antiken Griechenland eben kein Einzelbau, sondern ein Stadtquartier, eine Gegenstadt des Schauens und Erlebens in der Stadt war. Etwas Ähnliches ist dem Büro in Mestre gelungen. Zuletzt zeigte das Büro, welche ästhetischen Qualitäten nachhaltige Architektur haben kann, bei dem Neubau des Sitzes der Médecins sans Frontières in Genf, wo die Fassade mit ihren großformatigen Holzrahmen, Balkonen und Loggien ein eigenes Aufenthaltsraum ist – und zugleich ein grüner Filter, ein Vegetationsschirm, dessen Belaubung im Sommer Schatten spendet und die Klimatisierungskosten senkt.
Neben solchen Bauten hat sich Matthias Sauerbruch, unter anderem als Leiter der Sektion Baukunst der Berliner Akademie der Künste, über die Grenzen seines Fachs als streitbarer Verteidiger einer Idee von Baukultur und Stadtgesellschaft im Moment ihrer größten Strukturkrise verdient gemacht. Heute wird er siebzig Jahre alt.
Source: faz.net