Appell | Ein klarer und kompromissloser Beobachter: Marko Martin und sein Buch „Freiheitsaufgaben“
Das letzte Buch, das ich im Freitag rezensiert habe, war Julia Grinbergs Journal einer Unzugehörigkeit. Das wäre, dachte ich beim Lesen des neuen Buchs von Marko Martin, auch ein zutreffender Titel für sein Essay gewesen. Denn Martin, der in sich in der DDR den selbstverständlichen Massenorganisationen wie dem Wehrdienst verweigert hat, der Anfang 1989 in die Bundesrepublik kam und dort auf eine Gesellschaft traf, die ihm fremd bleiben musste, ist auch ein Unzugehöriger. Das verschafft ihm eine Distanz, aus der er die Welt beobachten kann.
Martin ist ein klarer und kompromissloser Beobachter, das zeigt sein Buch Freiheitsaufgaben. Man kann den Titel zweideutig lesen: Die Aufgaben, die die Freiheit uns stellt, könnte man in diesem Buch suchen. Es könnte aber auch um das Aufgeben der Freiheit gehen, um die Varianten in der Gegenwart, die Freiheit zu opfern, weil man ihren Wert und die Folgen ihres möglichen Verlustes fahrlässig nicht bedenken mag.
Alles begann mit der Solidarność-Bewegung
Martin zeichnet ein Bild der Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte des Freiheitskampfes in Ost-Mittel-Europa, der mit der polnischen Solidarność-Bewegung in den 1980ern begann und der, wenn man in die jungen Demokratien in Osteuropa schaut, noch längst nicht zu Ende ist.
Die erste Szene, die Martin skizziert, ist jene vom 7. November 2024, als er den Bundespräsidenten gegen sich aufgebracht hat, weil er in einer Rede, die doch eine feierliche Gedenkrede sein sollte, „dessen nur zu bekannte Rolle als langjähriger Schönredner, Beschwichtiger und damit indirekt auch Ermutiger der russischen Aggressionspolitik“ benannte. Mutig sei das gewesen, wurde ihm später gesagt, und das ist das erste Motiv des Bildes, das Martins Buch zeichnet.
Was sagt es über eine Gesellschaft, wenn offene Kritik schon als mutig angesehen wird? Martin erinnert an den Mut derer, die in den osteuropäischen Diktaturen mit Demonstrationen und Streiks den Kampf für die Freiheit gewagt haben. Er erinnert zugleich daran, wie die westdeutsche und die westeuropäische Linke und die Sozialdemokratie auf diese Freiheitsbestrebungen reagiert haben, nämlich keineswegs mit Freude und Unterstützung, sondern oft mit Ablehnung und Ermahnungen. Das Bild, das Martin entstehen lässt, zeigt auch die Illusionen, die man sich im linken politischen Spektrum über den real existierenden Sozialismus gemacht hat und von denen man sich ungern trennen wollte.
Dieses Buch wird nicht jedem gefallen
Während man das Buch liest, wird dieses Bild immer detailreicher, klarer und bunter. Menschen werden sichtbar, die insbesondere in Polen für die Freiheit gestritten haben. Kontrastreich setzt Martin die deutschen Vorurteile und Überheblichkeiten dagegen. Bis zum heutigen Tag halten sie sich in der deutschen Gesellschaft gerade gegenüber jenen osteuropäischen Ländern, in denen der Kampf für die Freiheit, der letztlich ganz Europa zugutekam, besonders engagiert geführt wurde.
So wird dieses Buch nicht jedem gefallen, der es genau liest und dabei bemerkt, dass es keineswegs eine wohlfeile Kritik an Politikern wie Steinmeier bezweckt, sondern jeden von uns zu selbstkritischer Reflexion auffordert über die eigenen Vorurteile und die eigenen Bequemlichkeiten, die letztlich dazu beitragen, dass wir die Freiheit, die wir haben, Stück für Stück aufgeben – vor allem, weil wir ihren Wert durch lange Gewohnheit zu schätzen verlernt haben.
Beklemmende Gesamtwirkung
Marko Martin selbst praktiziert diese Reflexion in seinem Buch, immer wieder tritt er von dem Bild, das da entsteht, zurück und fragt sich, wie er selbst darin aussieht. Man muss Martin nicht in jedem Urteil, das er über Personen fällt, zustimmen, muss nicht jedes Gesicht in seinem Gemälde für gut getroffen halten. Wie bei jedem Bild, das aus vielen Details besteht, kommt es auch bei diesem auf die Gesamtwirkung an.
Und die ist beklemmend: Man sieht, wie oft gerade jene, die von der Freiheit profitieren und die das Wort gern wie eine Losung im Munde führen, denen mit Misstrauen begegnen, die mit ihrem Leben für die Freiheit einstehen. Und wie sie jene hofieren, die die Abschaffung der Freiheit betreiben.
Martin zeigt Kontinuitäten, die von der Ostpolitik der westdeutschen Linken und Sozialdemokraten in den 1970ern bis zum heutigen Umgang mit der Ukraine und Israel reichen. Man möchte das als mutig bezeichnen, wenn man nicht wüsste, dass der Autor dieses lobende Wort wohl zurückweisen würde.
Freiheitsaufgaben Marko Martin Klett-Cotta 2025, 176 S., 20 €