Antisemitismus: Eine jüdische Taskforce schlägt Alarm
Da
sind erst mal die neuen, traurigen Zahlen, die lange Schatten werfen über die
Feiern und Nie-wieder-Schwüre zur 80-jährigen Befreiung vom
Nationalsozialismus. Zum ersten Mal veröffentlichen an diesem Mittwoch die
sieben Staaten mit den größten jüdischen Gemeinden einen gemeinsamen Bericht zum
weltweiten Stand des Antisemitismus. Über mehrere Tage traf sich in Berlin die
sogenannte Taskforce J7, Vertreter
der jüdischen Zentralverbände aus Argentinien, Australien, Großbritannien,
Deutschland, Frankreich, den USA und Kanada, unter anderem mit dem
Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.
In Deutschland zum Beispiel wuchsen
antisemitische Vorfälle zwischen 2021 und 2023 um 75 Prozent, für das vergangene
Jahr gibt es noch keine finalen Zahlen, eine vorläufige Polizeistatistik meldet
bereits über 5.000 Vorfälle und die deutsche Monitoringstelle RIAS für das
erste Halbjahr 2024 einen neuen Höchststand. Deutschland, das zeigt der
Bericht, ist das Land mit der höchsten Rate antisemitischer Vorfälle gemessen an der Größe der jüdischen Gemeinde,
womit es den traurigen Spitzentitel trägt als gefährlichstes Land
für Juden unter den sogenannten J7. In Australien stiegen 2024 die
Vorfälle um über 300 Prozent, in den USA haben in den vergangenen fünf Jahren
antisemitische Vorfälle um über 340 Prozent zugenommen, es sind die höchsten
Zahlen, die die US-amerikanische Organisation und Sammelstelle ADL, die Anti-Defamation League,
seit Beginn der Zählung vor 45 Jahren je verzeichnete.
„Der
7. Oktober brachte einen Tsunami an Antisemitismus mit sich“, sagt Marina
Rosenberg, die internationale Präsidentin der Anti-Defamation League. Eigentlich
wollte sie 80 Jahre Befreiung vor allem feiern. 80 Jahre Befreiung bedeuten
immerhin 80 Jahre jüdisches Überleben in Europa. Bedeuten wieder Synagogen
in Rouen, in Manchester, in Halle, Celle, Lörrach. „Aber wir sind auch hier,
um Alarm zu schlagen. Denn wir sehen hier einen globalen Notfall“, sagt
Rosenberg.
Nur: Wie viele wollen den Alarm überhaupt hören? Und wie überhaupt misst man einen
so viel diskutierten Begriff wie „Antisemitismus“? Rosenbergs Organisation,
die ADL, etwa beruft sich auf offizielle Daten der Strafverfolgungsbehörden,
Open-Source-Daten und gemeldete Vorfälle, die die ADL verifiziert,
indem sie Beweise, Zeugenberichte, den Sachverhalt der Beschwerde prüft.
Ähnlich der deutschen Behörde RIAS.
Viele werfen diesen Organisationen eine erhöhte
Empfindlichkeit vor, aber es ist nun mal genau die Aufgabe einer jüdischen
Taskforce zur Bekämpfung von Antisemitismus, „Alarm zu schlagen“, wie
Rosenberg es formuliert. Denn was der Bericht vor allem zeigt: Es geht hier
weniger um nuancierte Gefühle, sondern um tatsächliche Gewalt, die weltweit
gegen Juden zugenommen hat. Darum, dass Rabbiner und Synagogen weltweit angegriffen werden, bei Melbourne eine Synagoge während des
Morgengebets in Brand gesteckt wurde. In Frankreich vergewaltigten letzten Sommer drei Jungs
ein Mädchen, schlicht aus dem Grund, wie einer der Täter angab, weil sie Jüdin
war. Vor wenigen Wochen stach ein Attentäter auf einen Touristen am Holocaust-Mahnmal
ein, mit dem Plan, möglichst „viele Juden zu töten“. Es geht darum, dass in Kanada
Juden gerade mal ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber fast zwanzig
Prozent aller gemeldeten Hassverbrechen antisemitisch motiviert sind.
Es sind
nicht nur Zahlen, die Jahr für Jahr verlässlich erschreckend sind. Diese
Zahlen zeigen eine lebensbedrohliche Entwicklung. In Frankreich stieg die
Gefahr körperlicher Gewalt, über 65 Prozent der gemeldeten antisemitischen
Vorfälle beinhalteten Aggressionen gegen Menschen, zehn Prozent beziehen sich
auf körperliche Angriffe, ein Höchststand.
„Wir
nutzen seit 45 Jahren mehr oder weniger die gleiche Methode, um antisemitische
Vorfälle zu zählen, genauso übrigens wie Großbritannien. Dass die Daten
sprunghaft ansteigen, liegt also nicht an der Zählweise.“ Wie erklärt sich
Rosenberg dann diese neuen Superlative? Einerseits hätte der 7. Oktober eine
neue Normalisierung von antisemitischen Aussagen gebracht, sagt Rosenberg.
„Dann gibt etwas, das wir Al-Jazeera-Effekt nennen. Medien, die effektiv
Antisemitismus, israelfeindliche Vorurteile und antidemokratische Werte
fördern. Und natürlich tragen politische Ereignisse in der ganzen Welt, das
Erstarken von Populismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus zur Atmosphäre
des Antisemitismus bei.“