Angela Merkel: Ein Mann drängt in die Merkel-Nische

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Bevor Hendrik Wüst am Dienstagnachmittag in einem prunkvollen Saal in Köln unter glitzernden Kronleuchtern zu den Klängen Telemanns Angela Merkel seine besondere Aufwartung macht, zog es den NRW-Ministerpräsidenten und die Altkanzlerin in die Eifel. Offenbar auf eigenen Wunsch kehrte Merkel zurück in die Flutgebiete. Sie hatte es den Betroffenen damals bei ihrem Besuch kurz nach der Katastrophe im Juli 2021 zugesagt. Für Wüst war es die ideale Vorlage, um in seiner Rede zur Verleihung des Staatspreises NRW 2023 wenige Stunden später den Ton zu setzen. „Versprochen. Gehalten. Führung gezeigt. Verantwortung übernommen.“

Die Verleihung des Staatspreises des Landes NRW an Angela Merkel im Festsaal der Kölner Flora hat Hendrik Wüst unter das Zeichen des Humanismus gestellt. Er lobt Merkel als Krisenkanzlerin, als eine, die Frauen ermutigt habe, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Europa stabil gehalten und Menschen in existenzieller Not geholfen habe. In der Urkunde steht, der Preis werde ihr verliehen „für ihre außergewöhnlichen humanitären Leistungen und ihre herausragenden Verdienste um das Ansehen Deutschlands in der Welt“. Mehr geht eigentlich nicht.

Mit der Kölner Flora hat Wüst für die Ehrung einen Ort mit großer  Symbolik gewählt. Jener Ort, an dem Merkel am 4. September 2015, als sie eine Festrede zum 70. Jahrestag der NRW-CDU hielt, einen Anruf des österreichischen Kanzlers Werner Faymann bekam. Er wollte mit ihr über die Geflüchteten sprechen und über den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der damit gedroht hatte, gewaltsam gegen die Tausenden Menschen an den Grenzen vorzugehen. Sie wollte den damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer anrufen, doch der war nicht erreichbar.

In dieser Nacht traf sie die Entscheidung, die ihr weltweit großen Respekt einbringen sollte, die zugleich aber maßgeblich zum Zerwürfnis mit der eigenen Partei beitrug und der AfD einen Vorwand für ihre hasserfüllte Agitation bot: Die Grenzen bleiben offen.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk am frühen Dienstagmorgen betonte Wüst, dass ihn später durchaus Zweifel an Merkels Flüchtlingspolitik beschlichen hätten. Auch er habe darüber sinniert, ob es irgendwann einen Zeitpunkt hätte geben müssen, zu einer gewissen Ordnung zurückzukehren. Eine „paradiesische Lösung“ aber habe niemand parat gehabt. Bei dieser Ehrung gehe es um diesen einen Moment, in dem Merkel mit ihrer Weisung eine humanitäre Katastrophe verhindert und Europa zusammengehalten habe, sagte Wüst. In der Flora klingt das wenige Stunden später so: Aus christlicher Überzeugung, mit Mut und Menschlichkeit habe sich Merkel den Abschottungstendenzen in Europa entgegengestellt. „Es war eine Entscheidung aus Führung und Verantwortung – ein großer Akt der Humanität.“ EZB-Chefin Christine Lagarde sagte in ihrer Laudatio, die Menschen in Deutschland und Europa könnten stolz darauf sein, eine „solch charakterfeste Politikerin“ gehabt zu haben.

Der Gegenspieler von Parteichef Friedrich Merz

Die Verleihung des Staatspreises war nicht nur eine Ehrung der Altkanzlerin, sie bot Wüst vor allem die Bühne für ein innerparteiliches Statement in eigener Sache. Dass der Ministerpräsident Ambitionen hat, ins Kanzleramt einzuziehen, ist längst kein Geheimnis mehr. Konsequent besetzt er innerhalb der CDU die weitestgehend vakante liberale Nische und positioniert sich zunehmend als Gegenspieler von Parteichef Friedrich Merz und seiner Gefolgschaft, die der Partei auch und gerade in der Flüchtlingspolitik einen rechtskonservativen Kurs verordnen wollen. Ein Bekenntnis zu Merkels Erbe in dieser Zeit der aufgeheizten Debatten ist innerhalb der CDU für einen, der ganz nach oben will, nicht ganz ohne Risiko. In seinem Fall überrascht das ganz besonders. Es gibt derzeit wohl kaum einen Spitzenpolitiker in Deutschland, der dermaßen kontrolliert und zumeist unangreifbar glatt auftritt wie Hendrik Wüst.

Dass Merkel die höchste Auszeichnung erhält, die NRW zu vergeben hat, war Wüsts eigener Wunsch. Landtagsabgeordnete und Preisträger haben ein Vorschlagsrecht. Am Ende aber entscheidet allein der Ministerpräsident. Die Entscheidung für die ehemalige Kanzlerin soll bereits vor Monaten gefallen sein, heißt es aus NRW-Regierungskreisen. Also noch vor der Verleihung des Großkreuzes in besonderer Ausführung durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue am 17. April.

Die Preisverleihung ist keine „Heiligsprechung“

Damals ernteten Gastgeber und Geehrte heftige Kritik, weil sie gerade bei Verfehlungen in der Russland-Politik allzu kuschlig miteinander umgegangen waren. In der Kölner Flora spielt Russland eine Rolle, aber nur am Rande. Und doch versucht Wüst die Kritik aufzufangen, wenn auch etwas schmallippig. Politiker würden Fehler machen, sagt er ganz allgemein, deswegen sei diese Preisverleihung ja auch keine „Heiligsprechung“.

In Anbetracht der scharf geführten Debatte durfte man sich über die Anwesenheit einer bestimmten Person in den Stuhlreihen des Festsaals dann doch etwas wundern: Alice Schwarzer. Ihre Einladung war wohl ihrem Einsatz für die Rechte der Frauen geschuldet, für den sie 2004 ebenfalls mit dem Staatspreis NRW ausgezeichnet worden war. Öffentlich aufgefallen ist sie zuletzt aber vor allem mit ihrem Manifest für den Frieden, das sie mit der Linken Sahra Wagenknecht verfasst hatte und in dem die Verantwortlichkeiten für den Krieg und das Sterben in der Ukraine systematisch verwischt werden. AfD-Politiker, andere Rechtsextremisten und russlandfreundliche Medien kamen aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus.

Was im Schloss Bellevue schiefgelaufen ist, läuft also auch in der Flora schief. Und das, obwohl Wüst den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erst am Samstag persönlich in NRW begrüßt hatte. Immerhin nutzt Merkel die Ehrung, um ein Zeichen zu setzen: Sie kündigt an, das Preisgeld in Höhe von 25.000 Euro der deutsch-ukrainischen Hilfsorganisation Blau-Gelbes Kreuz zu spenden.

In ihrer Rede preist Lagarde die Altkanzlerin als „Antidot“, als Gegengift für all die populistischen Strömungen in Europa. Mit seinem Engagement für Geflüchtete in NRW erweckt Wüst den Eindruck, dass er in diesem Geist Merkels wirken will. Ob er denselben Mut haben wird, in den kommenden Gefechten um Macht und Mehrheiten populistischen Reflexen zu widerstehen, muss er indes erst noch beweisen. In Düsseldorf zumindest, wo er seit vergangenem Jahr einigermaßen harmonisch eine schwarz-grüne Koalition anführt, sieht man ihn, so ist zu hören, für höhere Aufgaben gewappnet.

Ein Verdienstorden aus Bayern folgt

Merkels Preistour ist an diesem Dienstagabend noch lange nicht zu Ende. Inzwischen hat sich Markus Söder in die Schlange der Ehrungswilligen eingereiht. Wo Wüst glänzen kann, will sein bayrischer Amtskollege Söder nicht nachstehen. Am 21. Juni will er der Altkanzlerin den Bayerischen Verdienstorden überreichen. Als Begründung nannte die Staatskanzlei in München am Montag den Einsatz Merkels in der Finanz- und Eurokrise sowie der Corona-Pandemie. Von ihrer Haltung in der Flüchtlingskrise war zunächst nicht die Rede.