An einem Ort, dieser keine einfachen Antworten erlaubt, widersteht Trumps Vize einer Versuchung

Der Besuch von Trumps Stellvertreter im ehemaligen Konzentrationslager Dachau gleicht einem politischen Minenfeld. J.D. Vance kommt in einer Zeit, in der die Bedeutung des Holocaust umstrittener zu sein scheint als je zuvor. Und entscheidet sich zu einer aufschlussreichen Geste.

Der junge Tscheche, dessen Leiden und Sterben hier dokumentiert ist, sei erst 17 Jahre alt gewesen, als die Nazis ihn wegen des Widerstands gegen die deutsche Besatzung hier ermordeten, erklärt Dirk Riedel, wissenschaftlicher Berater der Gedenkstätte Dachau an einem Schaukasten im ehemaligen Konzentrationslager. US-Vize-Präsident J. D. Vance und seine Frau Usha hören ihm aufmerksam zu.

„Er war eigentlich noch ein Kind“, sagt Riedel. Usha Vance, Tochter indischer Einwanderer in den USA, will mehr wissen. Und Riedel erzählt. Die Eltern des Jungen waren nicht zu Hause, als er festgenommen wurde. Sie seien ebenso entsetzt wie ungläubig gewesen, als die Nachricht sie erreichte. „Schließlich waren sie katholisch und keine Juden“, erklärt Riedel. Katholik ist auch J. D. Vance, ein Konvertit aus Überzeugung.

Es ist einer dieser Momente beim Besuch des Vize-Präsidenten an diesem Donnerstag in Bayern, bei dem die Schoah nicht nur als Verbrechen von Deutschen an Juden sichtbar wird, sondern als Menschheitskatastrophe an sich. Diese komplexe und umstrittene Bedeutung der Nazi-Verbrechen begleitet den Auftakt von Vance’ erster Reise als Vize-Präsident der Vereinigten Staaten in Deutschland. Das macht diesen Besuch besonders. Es macht ihn auch schwierig.

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An sich ist es nicht außergewöhnlich, dass ein Vertreter des Weißen Hauses nach Dachau kommt. Auch Mike Pence, Vize-Präsident während der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump, hat Dachau besucht, als er 2017 zu seiner ersten Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Amt angereiste. Trumps Vorgänger Joe Biden war mehrfach hier, auch in seiner Funktion als Stellvertreter des damaligen US-Präsidenten Barack Obama.

Solidarität mit Israel

Doch Vance kommt in einer Zeit, in der die Bedeutung des Holocaust umstrittener zu sein scheint als je zuvor. Und Vance ist Mitglied einer US-Regierung, deren Feinde wie Freunde immer wieder mit Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus argumentieren. Dieser Besuch ist als Geste vielleicht bedeutsamer als die vorhergehenden. Vielleicht ist Vance gerade deshalb gekommen.

US-Präsident Trump übt Solidarität mit der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu, deren Krieg gegen die islamistische Terrorgruppe Hamas in Gaza womöglich nur pausiert. Israels Regierungschef begründete den Krieg in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im vergangenen September auch damit, dass die Juden sich nach der Erfahrung der Schoah nie wieder wehrlos abschlachten ließen. Doch seine Kritiker in aller Welt vergleichen Netanjahus Kriegsführung immer wieder mit dem Massenmord der Nazis an den Juden. Gerade so, als seien Israels Juden von heute die neuen Nazis.

Auch die Regierung von Donald Trump wird von deren schärfsten Kritikern immer wieder in die Nähe des Faschismus gerückt. Etwa wegen ihres Umgangs mit Parteien, die in Europa am rechten Rand stehen. Wie die deutsche AfD.

Nachdem Trumps Verbündeter und Sonderberater Elon Musk in einem Beitrag in der WELT AM SONNTAG die Partei gelobt hatte, stellte sich Vance der öffentlichen Empörung über die Wahlempfehlung entgegen. „Ich unterstütze keine Partei bei den Wahlen in Deutschland“, schrieb der heutige Vize-Präsident in einem Post auf X. „Aber das war ein interessanter Text. Auch interessant: Amerikanische Medien verleumden die AfD als Nazis light, aber die AfD ist am beliebtesten in genau jenen Gebieten Deutschlands, in denen der Widerstand gegen die Nazis am größten war.“

Historiker kommen jedoch zu anderen Befunden. Und Kritiker in Deutschland warfen Vance und Musk mangelndes Bewusstsein oder Ignoranz gegenüber dem Verhältnis der AfD zum Nationalsozialismus vor.

AfD-Chefin Alice Weidel sieht den 8. Mai 1945, den Tag, an dem die deutsche Wehrmacht kapitulierte und der Zweite Weltkrieg endete, eigenem Bekunden nach nicht vor allem als Tag der Befreiung vom Faschismus, sondern als „Niederlage des eigenen Landes“. Und der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland hat die Nazi-Herrschaft als „Vogelschiss“ bezeichnet.

„Was hier geschehen ist, darf nie wieder geschehen“

Auch vor diesem Hintergrund betritt der amerikanische Vize-Präsident Vance ein politisches Minenfeld, wenn er nach Dachau kommt. Die mitgereisten amerikanischen Journalisten, die ihn schon auf seinem Zwischenstopp in Paris begleitet haben, warten voller Spannung, ob er in Dachau öffentlich sprechen wird. Denn das habe er auf seiner ganzen bisherigen Reise nicht getan, erzählen sie. Aber hier in Dachau spricht Vance tatsächlich.

„Was hier geschehen ist, darf nie wieder geschehen, nämlich der Mord an vielen Tausend unschuldiger Menschen“, sagt Vance gegenüber den Journalisten. Neben ihm steht der 94-jährige Abba Naor, der Dachau überlebt hat, und aus Israel angereist ist, um mit Vance das ehemalige Konzentrationslager zu besichtigen.

Vance dankt ihm dafür. „Ich habe viel über den Holocaust in Büchern gelesen. Aber hier zu sein und all das zu sehen, macht erlebbar, welches unbeschreibliche Böse hier geschehen ist. Und dass wir dazu verpflichtet sind, zu verhindern, dass es nie wieder geschieht“, sagt der Vize-Präsident. Er sei „wirklich bewegt“ von dem, was er hier gesehen habe. Es sei ein Ort unbeschreiblicher Gräuel, des Terrors und des Bösen. „Aber es ist gut, dass wir, die wir uns glücklich schätzen können am Leben zu sein, diesen Ort besuchen und uns dazu bekennen können, dass das nicht wieder geschieht.“

Ein anderer Politiker, Donald Trump etwa, wäre an diesem Punkt vielleicht der Versuchung erlegen, aktuelle Bezüge herzustellen. Aussprechen zu wollen, was „Nie wieder“ für den Krieg in Gaza bedeutet. Oder für die anstehende Bundestagswahl in Deutschland. Vance widersteht dieser Versuchung. Er ist nicht Trump. Jede Verbindung zur Gegenwart wäre historisch angreifbar – aber auch politisch riskant.

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Was Vance gesagt hat, steht für sich. Schließlich steht auch die Schoah in ihrer Unfasslichkeit für sich. Der Vize-Präsident beantwortet keine Fragen, so laut die amerikanischen Reporter sie ihm auch entgegenrufen. Er verabschiedet sich von Naor und verlässt Dachau.

Vielleicht ist ihm bewusst, dass Dachau immer ein Maßstab für die Menschheit ist – aber eben keiner, der einfache Antworten erlaubt. Mit Sicherheit weiß Vance, dass seine Regierung an ihren Taten und deren Folgen gemessen werden wird.

Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.

Source: welt.de