Herr Bezos, bitte übernehmen Sie! – Seite 1
Nach Cyril Northcote Parkinson dehnt sich Arbeit so lange aus, wie Zeit dafür zur Verfügung steht. Um das nach ihm benannte Gesetz zu illustrieren, wählte der britische Historiker und Soziologe das Beispiel einer Geburtstagskarte. Während ein Manager
zwischen zwei Terminen eine Karte besorgt, schnell ein paar Zeilen schreibt und
sie frankieren und einwerfen lässt, Gesamtarbeitszeit zehn Minuten, wird eine
Rentnerin, laut Parkinson, lange im Geschäft nach der richtigen Karte suchen,
auch beim Auswählen der Briefmarke verweilen, sich den Kopf zerbrechen, um die
richtigen Worte zu finden, und wenn sie die Karte zum Briefkasten gebracht hat,
ist der halbe Tag vergangen.
Worauf sich aber zu Parkinsons Zeiten – er verstarb Ende des vergangenen Jahrhunderts – die Rentnerin und der
Manager verlassen konnten: Am nächsten Tag würde die Postkarte das
Geburtstagskind erreichen; wenn nicht mit der frühen Post, dann eben mittags,
denn in den meisten europäischen Ländern gab es zwei Zustellzeiten. Auf die
Post war man stolz: In ganz Europa waren die Hauptpostämter wahre Paläste. Für den
russischen Revolutionär Lenin war die Deutsche Reichspost ein Vorbild guter Planwirtschaft.
Heute allerdings erscheint die Deutsche Post oft so marode, wie es die
Planwirtschaften Leninscher Prägung waren.
Die früheren Paläste, wo Postbeamte hinter hohen Tresen
thronten, wurden zu Videogeschäften oder dergleichen, und die örtliche
Postfiliale ist heute in einem Zeitungsladen oder an der Kasse eines
Supermarkts untergebracht. Und obwohl die Menschen immer weniger Briefe
schreiben, kommen immer mehr Briefe und Pakete verspätet an oder gehen verloren. Vergangenes Jahr gab es 43.500 Beschwerden. Ein Rekord.
Kritiker von links sehen den Grund für den Niedergang der
einst stolzen Post in der Privatisierung des Konzerns ab 1999. Theoretisch
sollte der Wettbewerb zu mehr Kundenfreundlichkeit, besseren und billigeren
Dienstleistungen führen. Mit dem Einzug des Wirtschaftlichkeitsdenkens aber, so sehen es
die Kritiker, seien unrentable Bereiche wie die private Briefzustellung
systematisch vernachlässigt worden, die Zahl der Briefkästen vermindert, die
vorhandenen Kästen seltener geleert worden. Obwohl das 2002 akquirierte
weltweit operierende Logistikunternehmen DHL floriert, sinkt die Zahl der
Beschäftigten in Deutschland und insbesondere im früheren Kerngeschäft, der
Briefzustellung.
Noch macht’s die Masse
Und nun auch noch der Zweiklassenbrief! Aus Robert Habecks Ministerium
kommt der Vorschlag, ein Sonderporto für die garantierte Zustellung am nächsten
Tag zu erheben. Bislang muss die Post laut Auftrag 80 Prozent der Briefe am
nächsten Tag, 90 Prozent innerhalb von zwei Tagen zustellen. Theoretisch
jedenfalls. Praktisch schafft sie das nicht mehr, wie Postkundinnen aus
leidvoller Erfahrung wissen. Mit der vorgeschlagenen Reform greift das
Wirtschaftsministerium ein Modell auf, das in vielen europäischen Ländern
üblich ist. In Italien etwa kostet ein Standardbrief 1,08 Euro, ein
Schnellbrief 2,75 Euro. Bei uns zahlt man für einen Standardbrief dagegen nur 85 Cent. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass wir immer
noch ein Land von Briefschreiberinnen sind. Die 59 Millionen Italiener
verschicken pro Jahr drei Milliarden Briefe. Die 83 Millionen Deutsche dagegen 18,6
Milliarden. Die Masse macht’s.
Noch. Denn Italien ist die Zukunft. Früher hatten Zeitungen
Leserbriefredaktionen. Da kamen Briefe in Krakelsütterlin an, in denen sich
ehemalige Wehrmachtsoffiziere beschwerten, man habe den Namen ihrer Division in
einem Geschichtsartikel falsch geschrieben, aber auch die Schreiben auf schwerem
Papier mit vorgedrucktem Briefkopf, auf dem ein Honorarkonsul darauf hinwies,
dass die Zahlen zu Brasiliens Zigarrenexport nicht stimmten. Dazu viele anonyme Zuschriften, die früher im Papierkorb landeten und heute die
Onlinekommentarspalten füllten.
Für Geburtstagsglückwünsche ist Facebook zuständig. Die
nervenden Rundbriefe, in denen Freunde und Verwandte die Jahresaktivitäten ihrer
tollen Familien lustig aufschreiben, kommen per E-Mail. Die meisten
Weihnachtskarten kommen von Leuten, die etwas von einem wollen: dem Optiker, dem
SOS-Kinderdorf, der Gewerkschaft. Ein Song wie Please Mr. Postman von den
Marvelettes – „Es muss doch irgendwann einen Brief von meinem Liebsten geben –
sehen Sie bitte, bitte noch einmal nach!“ – oder Return To Sender von Elvis verstehen
heutige Jugendliche nicht mehr: „Ich gab dem Zusteller einen Brief, er tat es
in seinen Sack; gleich früh am nächsten Morgen brachte er den Brief zurück …“
Also, für die Deutsche Post hat der Zusteller nicht gearbeitet. Und warum schickt
der Typ keine SMS?
Mehr kostet mehr
Die U.S. Mail ist übrigens nach wie vor ein staatliches
Unternehmen. Was aber auch nicht gegen den technischen Fortschritt hilft: Denn
natürlich geht die Zahl der Briefe auch in den USA zurück, und mit ihr die Beschäftigtenzahl,
während das von den Steuerzahlern zu schulternde Defizit steigt. So viel zur
bösen Privatisierung. Auch ein
Zweiklassenbriefsystem gibt es in den USA längst.
In Deutschland besteht es spätestens seit Jahresbeginn. Großversender erhalten seit dem 1. Januar neben der
üblichen Ermäßigung für Geschäftskunden von der Post einen sogenannten Laufzeitrabatt
von drei Prozent. Dafür müssen sie damit rechnen, dass ihre Briefe etwas länger
unterwegs sind. In den meisten Fällen ist das kein Problem. Broschüren und
Werbematerial, Rechnungen und Abrechnungen, Behördenpost wie die
Steuerbescheinigung oder der Wahlschein müssen nicht innerhalb von 24 Stunden
ankommen. Sie müssen nur ankommen. Wenn sie – zusammen mit rechtzeitig
abgeschickten Geburtstagswünschen und Familienrundbriefen – künftig nicht mit
Flugzeugen von einem Ende der Republik geflogen, sondern mit der Bahn
transportiert werden, wie es das Wirtschaftsministerium vorsieht, entlastet das
die Umwelt und ist auf Dauer billiger.
Und wer es partout schnell haben will – Parkinsons Manager,
der den Geburtstagsgruß an die Mutter bis auf den letzten Augenblick
hinausgeschoben, die Studentin, die ihre Hausarbeit erst auf den letzten
Drücker fertig bekommen hat – kann eben, muss eben mehr bezahlen. Mehr ist mehr
und kostet mehr.
Und doch bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Früher war ganz sicher nicht alles besser, früher war fast alles schlechter. Aber
Briefträgerinnen haben noch in den 1960er- und 1970er-Jahren eben nicht nur Werbebriefe
und Weihnachtspost ausgetragen. Sie brachten vielen Menschen auch den Lohn oder
die Rente. Sie stiegen in Mietshäusern oft Treppen in den vierten Stock und höher;
Hausbriefkästen sind eine verhältnismäßig neue Erfindung. Wenn eine Anschrift
unleserlich war, fragten sie im Haus nach; ein Brief mit falscher Postleitzahl oder
Hausnummer kam korrigiert an, statt als unzustellbar an den Empfänger
zurückzugehen. Postboten kannten ihre Klientel. Sie waren Vertrauenspersonen
und wurden Weihnachten beschenkt. Und ja, damals gab es mehr Personal und
kleinere Austragungsbezirke; aber ist es wirklich so, dass die Arbeit immer
schwieriger wird, oder greift hier Parkinsons Gesetz, dass sie sich ausgedehnt
hat, um die zur Verfügung stehende Zeit auszufüllen?
Wer garantiert also, dass es in zwei, drei Jahren
nicht heißt: Wer keine Erste-Klasse-Post bezahlt hat, muss mit drei oder vier
Tagen Laufzeit rechnen, während die Erste-Klasse-Post genauso unzuverlässig
funktioniert wie heute die normale? Was macht man, wenn der Brief, für den man
statt 85 Cent sagen wir zwei Euro bezahlt hat, doch nicht am nächsten Tag
ankommt? Schon jetzt stößt man mit seinen Beschwerden zunächst auf einen Chatbot, der einen mit vorgefertigten Satzbausteinen abspeist: „Ihr Anliegen
ist uns wichtig. Wir werden uns schnellstmöglich darum kümmern. Bitte haben Sie
aber Verständnis dafür, dass …“ Der
Arbeitsaufwand, der nötig ist, um sicherzugehen, dass man tatsächlich gehört wird, steht meist in keinem Verhältnis zum entstandenen Schaden; ein Schelm,
wer dahinter Absicht vermutet.
Die Post braucht Konkurrenz
Dass Leistungen ihren Preis haben, ist klar. Aber immer öfter muss man den Preis zahlen, ohne die Leistung zu
bekommen. Will man nicht, dass das Paket über die Hecke geschmissen wird,
sollte man lieber gleich sagen, dass es an die Packstation geliefert wird. Man
ist den ganzen Tag zu Hause und entdeckt den Schein im Briefkasten: „Leider
konnte unser Zusteller Sie nicht erreichen …“
Es hat keinen Zweck, dem alten Korpsgeist der gelben
Post nachzuweinen, dessen Kehrseite allerdings die behördenmäßige Herablassung
war, mit der man oft im Postpalast behandelt wurde. Die Post ist nun einmal ein
kapitalistisches Unternehmen. Sie wird nur besser, wenn auch sie sich der
Konkurrenz stellen muss. Die gibt es
zwar, etwa in Gestalt der PIN AG, aber noch kontrolliert die gelbe Post 90
Prozent des Briefmarkts. Der unbefristete Streik, über den die Gewerkschaft
ver.di abstimmen lässt, könnte
allerdings den Prozess der Abwendung der Kunden beschleunigen.
Überdies droht Personalvorstand Thomas Ogilvie mit der
Aufweichung von innen: „Wir haben als Post für Deutschland über viele
Jahrzehnte ein Betriebsmodell aufgebaut, das ausschließlich mit eigenen Kräften
operiert“, sagte er der Funke Mediengruppe. Aber es „stellt sich die Frage, ob
wir diese Standorte weiter selber betreiben können und wollen oder ob wir sie
fremdvergeben.“ Das betrifft etwa die Sortierstellen. Noch ist die Fremdvergabe
der Briefzustellung vertraglich ausgeschlossen. Aber die Betonung liegt hier
auf „noch“.
Vielleicht liegt da die Lösung. Wenn etwa Amazon verspricht,
dass die bestellte Orangenmarmelade morgen ankommt, dann kommt sie morgen an.
Vielleicht sollte Amazon Herrn Ogilvie und den anderen Post-Führungskräften, die von der sich
ausdehnenden Arbeit überfordert sind, die Verantwortung
abnehmen und die Briefzustellung organisieren, ob mit oder ohne
Zweiklassensystem. Ja, ich weiß, damit mache ich mir keine Freundinnen: Die
Arbeitsverhältnisse! Und überhaupt: US-amerikanische Großunternehmen! Es muss
nicht Amazon sein. Aber kein neues Tarifsystem, sondern nur ein beherztes Aufbrechen
des faktischen Monopols der gelben Post führt dazu, dass wir nicht in drei
Jahren hier die gleiche Diskussion führen.