Wolfen-Nord ist ein ehemaliges Vorzeigeplattenbauviertel für die Chemie-Arbeiter*innen von Wolfen und Bitterfeld. Gegen Ende der DDR lebten hier über 35.000 Menschen, heute sind es noch 7.000. Die meisten Gebäude sind abgerissen, Natur kehrt zurück. Am Pflanzenwuchs kann man noch die Umrisse ehemaliger Wohnblocks erkennen. Und hier, wo Rehe zwischen den verbliebenen Platten spazieren gehen, drängelten sich vergangenen Sonntag etwa 50 Leute vor dem graffitibesprühten Jugendclub 84, der schon bessere Tage gesehen hat. 20 Plätze sind in einem improvisierten Kinosaal aufgebaut, es dauert, bis alle einen Platz gefunden haben. Dann: auf der Leinwand eine Schulklasse im Norden Argentiniens, die verwundert in den Raum starrt. Im Raum eine bunte Mischung aus Anwohner*innen, Künstler*innen und Gästen des Festivals OSTEN, die ebenso verwundert auf die Leinwand starren.
Als wir vor einem Jahr mit Thomas Heise über das Festival sprachen, schlug er sofort vor, seinen 2011 entstandenen Film Sonnensytem dort zu zeigen. Wir Kurator*innen kannten den Film nicht. Als wir ihn sahen, waren wir erstaunt: Es ist ein Film über Menschen der indigenen Gemeinde der Kolla von Tinkunaku, einem Gebiet im Norden der Provinz Salta, Argentinien. Ohne jede Kontextualisierung durch Interviews oder Kommentare nähert sich Heise den Menschen dieser kleinen Gemeinde. Fast zwei Stunden sehen wir ihren eng an den Wechsel der Jahreszeiten gekoppelten Alltag. Ihre Zeitlichkeit, ihre Rituale. Am Ende des Sommers verlassen sie ihr Dorf und machen sich auf den Weg in die Stadt, nach Buenos Aires. Wir sehen ihre Fahrt durch die sich bis zum Horizont erstreckenden Slums der Metropole.
Es ist ein faszinierender, ein starker Film. Aber warum in Wolfen-Nord von einer indigenen argentinischen Gemeinschaft erzählen? Warum Sonnensystem beim Festival OSTEN? Heises Vorschlag überraschte. Viele, vielleicht fast alle seiner anderen Werke, so schien es uns damals, hätten besser gepasst. Wir begannen seine Filme noch einmal zu schauen. Von den ersten, noch in der DDR entstandenen Dokumentationen Das Haus. 1984 (ein einzigartiges Dokument über Verwaltungsvorgänge in der DDR) und Imbiss Spezial (ein Imbiss im Bahnhof Lichtenberg, am 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989) über Eisenzeit (Jugendliche in der sozialistischen Vorzeigestadt Eisenhüttenstadt), die Halle-Neustadt-Trilogie, Vaterland, Barluschke bis hin zu den neueren Materialsammlungen.
Thomas Heise zeigt Menschen um ihrer selbst willen
Jedes Mal aufs Neue waren wir geflasht: Wie war es möglich, Menschen so zum Sprechen zu bringen, Leute so zu zeigen, ohne Urteil, ohne Deutungshoheit? Woher dieser Mut, diese Radikalität? Heise zeigt Menschen, Bilder und Situationen um ihrer selbst willen und nicht, um damit etwas anderes zu zeigen oder zu beweisen.
Wir konnten uns nicht entscheiden. Jeder seiner Filme ist auf seine Art toll und passt zu unserem Festival. Gemeinsam mit Heise beschlossen wir, einen kleinen Streifzug durch sein Werk zu zeigen. Drei Wochen vor dem Festival-Start rief uns Heise an. Die Beschreibungen seiner Filme auf unserer Website fand er grässlich. Wir verstanden nicht, warum. Es waren Beschreibungen, die so oder ähnlich auch von anderen Veranstaltern veröffentlicht worden waren. „Umso schlimmer“, sagte Heise am Telefon. „Die sind nicht mal von euch selbst!“ Was ihn am meisten störte, waren Interpretationen. Er hasste es, wenn in den Ankündigungen seiner Filme beschrieben wurde, was die Zuschauer*innen denken, wie sie die mitunter verstörenden Bilder oder Szenen einordnen und interpretieren sollten. „Ich habe keinen Film über Neonazis gemacht“, sagte er über Stau, „sondern über Jugendliche in der Nachwendezeit in Halle-Neustadt.“
Heise zeigt Widersprüchlichkeiten, die die Zuschauer*innen in eine gewisse Not bringen. Sie lassen sich nicht umstandslos in bestehende ideologische Denkmuster – links, rechts, West, Ost – einordnen. Und gerade die voreilige Einordnung, so Heise, verhindere eine Erfahrungstiefe beim Erleben seiner Filme. Damit treffen sie den Kern unseres Anliegens eines Festivals für Kunst und gegenseitiges Interesse. Wo Kunst einen Anlass zur Begegnung stiftet, im gemeinsamen Rutschen, bei Erdverkostungsworkshops, Papp-Puppen-Paraden, Lyrikausflügen und Filmdiskussionen – jenseits von klaren Kategorien.
Ständiger Balance-Akt zwischen Einladung und Zumutung
Je näher die Entscheidung für die Auswahl der Filme für das Festival rückte, desto häufiger sprachen wir wieder über Sonnensystem. Unsere Perspektive hatte sich verändert: Plötzlich schien es uns zwingend, die Reihe mit diesem Film zu eröffnen. Gerade in Wolfen-Nord. Natürlich sind die Ostdeutschen kein indigenes Volk. Es geht uns aber nicht um einen Vergleich, sondern um Erkenntnisse und Fragen im korrespondierenden Sehen. Sonnensystem ist ein Requiem, und das Gefühl eines endgültigen Umbruchs, der Wechsel in eine andere Zeitrechnung, drängt sich auf. Und das nicht nur in Wolfen-Nord, sondern im gesamten ostdeutschen Chemiedreieck zwischen Bitterfeld, Wolfen und Leuna/Buna. Das Abschiednehmen für immer und das endgültige Verschwinden von etwas sind hier überall präsent. Genauso wie die disproportionalen Zumutungen einer industriellen Moderne an Menschen und Landschaft.
Irgendwie, so begriffen wir, traf Heise mit seinem Vorschlag, gerade diesen Film zu zeigen, genau den Nerv des Festivals: Veränderung in ihrer ganzen Ambiguität zu zeigen, voller Gewalt, voller Sehnsucht, Hoffnung und Verzweiflung, das ist der Kerngedanke des Festivals. Es will den Osten hinterfragen und feiern, zur Sprache bringen und Verwirrung stiften. Und wie Heises Film ist das Festival ein ständiger Balance-Akt zwischen Einladung und Zumutung. Und diese Widersprüche schaffen Denkräume: Während der Zug im Film sich in die Innenstadt von Buenos Aires quält, dringt von draußen der Ruf der Amsel herein. Auf den Freiflächen zwischen den Platten singen die Vögel, wird Zucchini angebaut, und der Wolfen Nord e. V. plant unter dem Motto „Zukunft gestalten, wo Vergangenheit Gegenwart ist“.
Zwei Tage vor der Eröffnung des Festivals erfuhren wir von Heises Tod. Plötzlich ist unsere kleine Filmreihe die erste Retrospektive. Natürlich wollte Heise zum Festival kommen, um mit uns über seine Filme, die Kolla und vor allem den Osten zu sprechen. Aber Thomas Heise wird nicht da sein, er wird auch nicht mehr kommen. Am 9. Juni zeigen wir in Wolfen-Nord seine Filme Das Haus. 1984 und Imbiss Spezial, am 15. Juni Eisenzeit und am 16. Juni Stau. Jetzt geht’s los. Jeweils elf Uhr, in Wolfen-Nord als Teil des Programms OSTEN PLUS. Fragen, die sie aufwerfen, müssen wir fortan allein beantworten. Heise, einer der größten Chronisten des Ostens, wird uns fehlen, aber er hat Fragen hinterlassen, und es liegt an uns, sie zu stellen.
Thomas Heise (1955 – 2024), geboren in Ostberlin, zählt zu den wichtigsten deutschen Dokumentarfilmern und hat besonders den Umbruch 1989 und dessen Folgen festgehalten. Sein Regiestudium an der Filmhochschule Konrad Wolf brach er Anfang der 1980er ab, als freier Autor und Regisseur drehte er fortan Filme und inszenierte am Theater. Er lehrte Kunst und Film an der HfG Karlsruhe und der Akademie der bildenden Künste Wien. Seine Filme erhielten zahlreiche Preise