Es gibt viele unvergessliche Szenen in der Filmgeschichte. Aber es gibt wenige, bei denen man das Gefühl hat, dass sie nicht durch Kunst und Können, sondern durch eine Art Zauberei entstanden sind, Momente, in denen einfach alles stimmt: die Stimmung und das Licht, der Rhythmus und die Musik, die Schauspieler und der Blick der Kamera. Claudia Cardinale hat zwei dieser Szenen erlebt.
Die eine ist ihr Tanz mit Burt Lancaster in Luchino Viscontis „Der Leopard“. Sie spielt die Tochter eines Emporkömmlings und Kriegsgewinnlers, und Lancaster ist der Vater ihres Bräutigams, ein Fürst mit Stammbaum bis ins Hochmittelalter, aber als Angelica und Don Fabrizio vor dem versammelten Adel Siziliens in einen Walzer gleiten, ist das alles vergessen, denn jeder der beiden tritt in den Traum des anderen ein: ihren Traum von Glanz und Reichtum, seinen Traum, wieder jung zu sein. Visconti hat die Szene so inszeniert, dass sich der Tanz der beiden in den Augen aller anderen spiegelt, so dass er zugleich intime Berührung und gesellschaftliches Ereignis ist, aber in den Nahaufnahmen von Giuseppe Rotunnos Kamera sieht man nur noch die Intimität, die Versöhnung von Schönheit und Macht, Hollywood und Cinecittà, Claudia und Burt forever.
Die zweite Szene ist ihre Ankunft in der Westernstadt in Sergio Leones „Spiel mit das Lied vom Tod“. Sie ist Jill, eine Prostituierte aus New Orleans, die einen Witwer mit drei Kindern geheiratet hat, aber als sie an dem namenlosen Bahnstation eintrifft, sind ihr Mann und seine Kinder tot, erschossen von Banditen. Während Jill vor den aufgebahrten Leichen steht, beginnt die Filmmusik von Ennio Morricone sie einzuhüllen, und das Begräbnis wird zum Oratorium, die Worte des Priesters, das offene Grab und Jills Gesicht vor dem blauen Himmel verschmelzen zu einer irrwitzigen visuellen Choreographie. Leone hat Morricones Musik beim Drehen aus Lautsprechern abspielen lassen, aber keiner seiner Darsteller scheint von den Klängen so ergriffen zu sein wie Claudia Cardinale. Es ist, als hörte sie mit dem ganzen Körper, denn ihr gesamter Ausdruck verändern sich, sie wird in Sekunden von der Lebedame zur trauernden Ehefrau und zur gewieften und skrupellosen Rächerin.
Zwischen diesen beiden Filmen, zwischen 1963 und 1968, liegt eine Karriere, wie sie selbst in den wilden Sechzigerjahren, im ersten Krisenjahrzehnt des Nachkriegskinos, selten war. Die noch nicht dreißigjährige Cardinale zog von einer Großproduktion zur nächsten, und immer waren es Hauptrollen: neben Peter Sellers in „Der rosarote Panther“, mit John Wayne in „Circus-Welt“, mit Anthony Quinn und Alain Delon in „Lost Command“, mit Lee Marvin und Burt Lancaster in „Die gefürchteten Vier“, mit Tony Curtis und Sharon Tate in „Don’t Make Waves“. Schon vor dem „Leoparden“ hatte Fellini die junge Schauspielerin für „Achteinhalb“ engagiert, wo sie die Traumfrau des Regisseurs Guido Anselmi spielte, und auch Visconti blieb seiner Entdeckung treu, er stellte sie in den Mittelpunkt seines Familiendramas „Sandra“ und gab ihr in „Gewalt und Leidenschaft“ den Part der verlorenen Ehefrau des greisen Helden, den abermals Burt Lancaster verkörperte.
Von all dem hatte Claude Joséphine Rose Cardinale, die als Tochter sizilianischer Auswanderer im französisch regierten Tunis geboren und aufgewachsen war, nicht zu träumen gewagt. Aber sie hatte Brigitte Bardot im Kino gesehen und zu ihrem Idol gemacht. Als Schülerin trat sie in einem Liebesdrama mit Omar Sharif auf. 1957 gewann sie bei einem tunesischen Schönheitswettbewerb eine Reise zum Filmfestival in Venedig. Als sie ein Jahr später in Rom von dem Produzenten Franco Cristaldi unter Vertrag genommen wurde, trug sie ein Kind im Bauch, aber Cristaldi, mit dem sie bald eine Beziehung begann, hielt ihre Schwangerschaft geheim und adoptierte nach der Heirat ihren unehelichen Sohn.
So öffneten sich für Claudia Cardinale die Türen einer hektisch pulsierenden Filmindustrie. Schon nach zwei Jahren gab sie in „Bel Antonio“ die keusche Braut Marcello Mastroiannis. In „Das Mädchen mit dem leichten Gepäck“ verdrehte sie Jacques Perrin den Kopf, in „Das Haus in der Via Roma“ und in „Cartouche“ Jean-Paul Belmondo. Ein Jahrzehnt später stand sie endlich mit ihrem Mädchenschwarm Brigitte Bardot in der Westernfarce „Petroleum-Miezen“ vor der Kamera. Aber jetzt waren die beiden einander ebenbürtig, mit klaren Vorteilen für Cardinale. Ihre Filme hatten Kinogeschichte geschrieben, die von Bardot nur Illustriertengeschichten.
Sie habe sich nie als Schauspielerin betrachtet, sondern nur die Erfahrungen ihres Lebens ihren Rollen anverwandelt, hat Claudia Cardinale erklärt. Und sie habe ihren Körper wie eine Maske benutzt. Genau darin liegt das Wesen aller weiblichen Kinostars vom Stummfilm bis heute. Ihr Glanz bleibt immer maskenhaft und fern, aber für Augenblicke treten sie aus ihm heraus und werden auf magische Weise lebendig. Die Industrie, die diese Verwandlung ermöglicht und verwertet, hat Claudia Cardinale nie losgelassen, aber in ihren späteren Jahren hat sie einen Weg gefunden, das Spiel mitzuspielen und zugleich ihren eigenen Impulsen zu folgen.
Für ihren zweiten Mann, den Regisseur Pasquale Squitieri, verkörperte sie eine sizilianische Bürgerrechtlerin und die Frau eines Gewerkschafters, die Mutter des Stauferkaisers Friedrich II. und die Geliebte von Benito Mussolini. Bei Liliana Cavani war sie eine neapolitanische Prinzessin in der Verfilmung von Curzio Malapartes Roman „Die Haut“, wo sie ein letztes Mal Burt Lancaster und Marcello Mastroianni begegnete. Und in Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ von 1982 war sie die Frau, die den opernverrückten Klaus Kinski mit seinem Schiff durch den Regenwald am Amazonas begleitet. Sie sei eine von zwei oder drei Schauspielerinnen gewesen, die Kinski respektiert habe, hat Herzog erzählt. Am Set war sie als einzige in der Lage, dessen wiederkehrende Wutausbrüche zu beenden. Und nie, so Herzog, sei sie schöner gewesen als in seinem Film.
„Sie sind nicht nur ein guter Tänzer“, sagt Angelica in „Der Leopard“ zu Don Fabrizio Corbera, Fürst von Salina: „Sie sind ein großartiger Tänzer.“ Man muss das gesehen haben, um zu begreifen, wozu das Kino in seinen begnadeten Augenblicken imstande ist. Claudia Cardinale, die am Dienstag im Alter von 87 Jahren im französischen Nemours gestorben ist, war eine großartige Schauspielerin. Wie werden sie nicht vergessen. Andreas Kilb
Source: faz.net