Der US-Soziologe Jack
Goldstone forscht seit Jahrzehnten zur Geschichte und Wirksamkeit von
Revolutionen, Gewalt und sozialem Wandel. Hier spricht er über seinen Blick auf
den Umsturz in Syrien.
Jack Goldstone: Sie kennen sicher das sehr erfolgreiche Musical Les Misérables über die Französische Revolution, nach dem Roman von Victor Hugo. Das ist eine von unzähligen kulturellen Inszenierungen, die Revolutionen zu singulären heroischen Ereignissen verklären: mit Helden auf den Barrikaden und allem, was dazu gehört. Wir finden diese Idealisierung auch bei dem Teil der US-amerikanischen und europäischen Jugend, die in den 1960er- und 1970er-Jahren die Revolutionäre Che Guevara und Fidel Castro als Helden verehrte. Sie waren fasziniert von der falschen Vorstellung, dass ein einziger großer Kampf ein Land oder die ganze Welt verwandeln und auf einen besseren Weg bringen kann. Das ist es, was ich mit unserem falschen Revolutionsmythos meine.
ZEIT ONLINE: Die historische Erfahrung widerspricht diesem Mythos?
Goldstone: Wir stellen uns Revolutionen oft automatisch als großen Schritt vorwärts vor, als Fortschritt. Revolutionen sind zwar immer der Versuch, die Dinge besser zu machen. Aber nicht alles, was Menschen versuchen, bringt die Ergebnisse, die sie erwarten. Auch Revolutionen, die mit den tollsten Plänen und den besten Absichten beginnen, enden oft in langen Phasen des Bürgerkriegs oder damit, dass die eine Diktatur durch eine andere ersetzt wird. Die Geschichte der Revolutionen ist düsterer und chaotischer, als man glaubt.
ZEIT ONLINE: Und sie dauert oft auch Jahre oder Jahrzehnte, wie im Fall der Französischen Revolution. Die Arabellion, die 2011 begann, wurde von vielen Beobachtern schon vor Jahren als gescheitert abgetan. Nun ist das Regime in Syrien doch noch gestürzt. Sind wir heute zu ungeduldig mit unserem Urteil über Revolutionen?
Goldstone: In der Tat, ja. In einer meiner Studien habe ich untersucht, wie viel Zeit vergeht, bis sich nach dem ersten Kontrollverlust eines alten Regimes ein neues, stabiles Regime etabliert hat. Das Ergebnis: Im Schnitt dauert es knapp 20 Jahre. Eine Revolution ist kein Ereignis, sondern ein Prozess. Das ist immer das Erste, was ich meinen Studenten sage. Das Zweite: Revolutionen können auf verschiedene Arten erfolgreich sein.
ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das?
Goldstone: Wenn sie es schaffen, die bestehende Regierung loszuwerden, ist das schon ein Erfolg. Deshalb sind für mich auch die Revolutionen des Arabischen Frühlings nicht gescheitert. Es ist ihnen gelungen, die jahrzehntelangen Machthaber Hosni Mubarak, Ben Ali und Muammar al-Gaddafi zu stürzen. Wurden diese Regime durch etwas ersetzt, was wir als westliche Beobachter uns wünschen, eine ideale, integrative und wohlhabende Gesellschaft? Nein, gemessen daran waren diese Revolutionen nicht erfolgreich. Aber diese Erwartung war auch nie realistisch.
ZEIT ONLINE: Aber wenn schon der Machtwechsel ein Erfolg ist, was unterscheidet dann eine Revolution von einem Regimewechsel?
Goldstone: Das ist eine gute Frage. Hannah Arendt war der Meinung, dass die einzigen Revolutionen, die diesen Namen verdienen, jene sind, die im Namen der Freiheit erkämpft werden und erfolgreich sind. Diesem Anspruch werden aber selbst die Französische oder die Russische Revolution nicht wirklich gerecht. Meiner Ansicht nach ist jede Massenbewegung, die ein Regime gegen dessen Willen stürzt, eine Revolution. Es kann sich um eine zivile Protestbewegung handeln, eine militärische Bewegung oder eine Guerillabewegung. Entscheidend ist, dass die Revolutionäre angetrieben sind von der Überzeugung, dass das bisherige Regime grundlegend falsch ist und man es unbedingt loswerden will. Staatsstreiche und dynastische Machtkämpfe ohne breite Beteiligung der Bevölkerung zählen also nicht dazu.
ZEIT ONLINE: Syrien hat bis zum Sturz Assads einen brutalen Bürgerkrieg erlebt, und niemand weiß, wie es nun weitergeht. Karl Marx hat mit Bezug auf Revolutionen davon gesprochen, die Gewalt sei „der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“. Gibt es keinen echten Wandel ohne Gewalt?